Peter König, Der Bund (31.01.2017)
Charles Gounods Oper «Faust» im Berner Stadttheater ist ein grelles, aber schlüssiges Spektakel. Und eine musikalische Sternstunde.
Der britische Regisseur und Bühnenbildner Nigel Lowery hat in Bern seinen dritten Opernstreich gelandet, und es ist der bisher beste: Nach Wolfgang Amadeus Mozarts «Zauberflöte» und Gioachino Rossinis «L’occasione fa il ladro» folgte nun «Faust» von Charles Gounod. Konzert Theater Bern gelingt damit nur zwei Monate nach dem «Figaro» erneut eine Opernproduktion der Extraklasse: Eine schlüssige Werkdeutung, konsequent umgesetzt und musikalisch auf höchstem Niveau.
Das ist keineswegs selbstverständlich, denn «Faust» ist nicht einfach zu besetzen. Die etwas bange Frage, ob das Berner Stadttheater dies mit fast ausschliesslich eigenen Kräften schaffen würde, war also gestattet. Sie erwies sich jedoch schnell als rhetorisch: Kai Wegner, ein Hüne von Gestalt und Stimme, ist ein durch und durch rollendeckender Méphistophélès. Wegner gelingt eine überzeugende Gratwanderung zwischen bedrohlicher und auch mal komischer Figur. Ebenso auf der Höhe der Aufgabe ist Evgenia Grekova: Ihre Marguerite hat alles, von fein-versponnenen Lyrismen bis zu dramatischen Ausbrüchen. Das hohe C macht ihr keine Mühe, die berühmte Juwelenarie gerät zum vokalen Bijou. Auch die Arie im vierten Akt gestaltet sie innig und klangschön, nur am Schluss muss sie der grossen Partie einen leichten Tribut zollen.
Ein Tenor als Glücksfall
Der grösste Glücksfall in der Besetzung ist der deutsche Tenor Uwe Stickert. Der Faust kann lyrisch oder dramatisch angelegt werden, Aufführungsgeschichte und Diskografie kennen Beispiele für beides. Stickert ist klar der lyrischen Gattung zuzurechnen. Sein Französisch ist tadellos, seine Höhen sind es ebenso und die eher hell gefärbte Stimme ist wunderbar leicht geführt.
Als Vierter in den Bund der Hauptpartien aufzunehmen ist Todd Boyce, dessen Valentin die Regie eine eminentere Rolle zudenkt als üblich. Sein schlanker, unangestrengter Bariton und die grazil-asketische Erscheinung sind glaubwürdige Kontrapunkte zu Tenor und Bass. Das hohe Stimmniveau zieht sich durch zu den kleineren Rollen: Einmal mehr muss (oder darf ) man Claude Eichenberger (Dame Marthe) als äusserst luxuriöse Besetzung bezeichnen. Carl Rumstadt (Wagner) und Eleonora Vacchi (Sièbel) stehen ihr kaum nach.
Trotz dieser Solo-Leistungen gehen aber die grössten Lorbeeren an Chor und Orchester, und damit auch an Chorchef Zsolt Czetner und Dirigent Jochem Hochstenbach. Mit so viel Spielfreude, Durchschlagskraft und Genauigkeit hat der Chor von Konzert Theater Bern lange nicht mehr geglänzt. Das ist umso bemerkenswerter, als auch die Regie der Truppe einiges abfordert und sie zum eigentlichen Bewegungschor macht.
In Hochform ist auch das Berner Sinfonieorchester (BSO). Wunderschön und bis ins hinterste Instrument differenziert erklingt die Raffinesse von Gounods Orchestrierung, die das Klangfarbenspektrum von Harfe und Flöte über die tiefen Streicher bis zur Orgel auslotet. Das BSO spielt frei von Premierennervosität und makellos. Und es hat in Jochem Hochstenbach den richtigen Dirigenten: Er kostet alle Einzelheiten der Partitur aus und variiert sorgsam Tempo und Dynamik, ganz im Stil der Grand Opéra oszillierend zwischen Massenszenen und intimen Momenten.
Zurückgedrehte Zeit
All das ist Grund genug, sich diese Oper anzuhören. Es ist aber auch ein «Faust» fürs Auge: In Lowerys expressionistischem, weitgehend einheitlichem Bühnenbild bewegen sich puppenhaft geschminkte Gestalten. Nur der 4. Akt spielt in statt vor der Kirche, in Form und Farbe von Lyonel Feininger inspiriert.
Die Zeit wurde zurückgedreht, die Puppen sind aus den Gräbern gestiegen und führen einen makabren Totentanz auf. In grellen Farben spielt die düstere Geschichte von Marguerites Ausgrenzung, um ihrer Liebe willen verstossen und am Ende gehenkt. Von der eigenen Sippschaft, sektenhaft schwarz und grotesk verzerrt dargestellt vom Berner Chor (Kostüme: Bettina Munzer). Angeführt von einem Valentin, dem die Konvention wichtiger ist als das Wohl der eigenen Schwester. Es ist kein «Faust» für sanfte Gemüter, in den tosenden Applaus mischten sich bei der Premiere einzelne Buhs: Wer sich eine gefällige Bebilderung von Gounods Musik erhofft hat, wird sich erschrocken abwenden: Nicht umsonst evozieren Wolkenhimmel und Mephisto-Kostüm am Schluss das Bild «Der Schrei» des norwegischen Malers Edvard Munch. Doch gibt es auch ironische Brechungen wie die Blut-Kokarde von Valentin oder die drei Wiedergängerinnen der Marguerite. In «Hoffmanns Erzählungen» wären es «Artiste, jeune Fille et Courtisane», hier kommen sie als Ophelia, Goldmarie und Sennentuntschi daher. Das klingt alles etwas dick aufgetragen, wie es auch die rückwärts laufende Uhr ist. Aber die Geschichte stimmt, sie gibt zu denken und öffnet die Augen. Wem es zu viel wird, soll sie halt schliessen – die Musik allein ist das Eintrittsgeld auch schon wert.