Tobias Gerber, Neue Zürcher Zeitung (01.02.2017)
Jugendliche Vitalität erlangt Faust im Pakt mit dem Teufel nicht in Nigel Lowerys Inszenierung am Konzert Theater Bern. Umso mehr erfreut die lebendige Musik.
Am Ende des dritten Aktes, so könnte man denken, ist die Welt noch in Ordnung. Zwar beschliesst teuflisches Gelächter hier das Geschehen, aber im Liebesduett von Faust und Margarethe scheint doch eine Ahnung auf von ungetrübtem Glück. Ein Glück, das die Wolken hell überstrahlt, die längst über dem Schicksal der irdischen Protagonisten aufgezogen sind.
Dass die neu gewonnenen Lebens- und Liebestriebe des Titelhelden ausreichen, um das Glück jugendlicher Vitalität wiederzuerlangen, daran lässt Nigel Lowerys Berner Inszenierung von Gounods Oper aber von Anfang an zweifeln.
Ein Zauderer?
Im schlichten, entfernt an Bilderbuch-Illustrationen erinnernden Bühnenbild (entworfen von Lowery selbst) zeigt der Regisseur einen Faust, der sich schon im Griff nach dem Giftbecher als Zauderer erweist. Sterben will er nicht so recht, wenn aber seine Angebetete neben ihm niedersinkt, ihre Liebe zu ihm schon im Lichte letzter Hin- und Selbstaufgabe formuliert, so legt er sich auf seine Margarethe hin, und es scheint, als wäre es ihm gar nicht unrecht, wenn hier schon Schluss wäre.
Was als Charakterzeichnung sehr wohl reizvoll sein könnte, führt bei Lowery aber wiederholt zu szenischem Stillstand. Da mangelt es nicht nur Faust an Willenskraft; vielmehr fehlt es generell an körperlicher Spannung und Interaktion zwischen den Figuren auf der Bühne. Tapsig steht Faust wie in einer Kuppelshow im Vorabendfernsehen neben seiner Margarethe, und der Höllenfürst Mephisto streicht um seinen unglücklichen Kompagnon herum, als ginge es nicht um einen teuflischen Handel, sondern vor allem darum, sich als Sänger ans Publikum zu wenden.
Dabei treten Uwe Stickert als Faust und Kai Wegner als Mephistopheles sanglich durchaus solide auf. Zwar würde sich eine szenische Schärfung ihrer Figuren und von deren Beziehungen untereinander wohl auch in der musikalischen Charakterzeichnung zusätzlich differenzierend auswirken; mit seinem hellen, kräftigen Tenor verleiht Stickert seiner Rolle aber doch plastische Gestalt, und Wegners dunkler, abgerundeter Bass macht die Figur des Teufels zwischen ungehaltener Bösartigkeit, Schalk und verführerischem Charme zumindest greifbar.
Regisseur Lowery meinte, dass Gounods Oper, die im deutschsprachigen Raum unter dem Titel «Margarethe» bekannt ist, eigentlich «Valentin» heissen sollte – benannt nach dem Oberhaupt jener «unbarmherzigen Gesellschaft» namens Familie, die das Urteil über Margarethe vollstrecken wird. So kommt dieser Figur eine markante Rolle zu, nicht zuletzt dank der schauspielerisch und sängerisch beeindruckenden Leistung von Todd Boyce. Ein gefühlskalter und charismatischer Anführer ist sein Valentin, unter der Hülle von Frömmigkeit und Konvention brodelt es bedrohlich. Um aber tatsächlich als dramaturgischer Fluchtpunkt zu dienen, sind die Auftritte der Figur zu knapp bemessen in dem Stück.
Glauben und Begehren
In bester Form spielt bei der Premiere das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Jochem Hochstenbach auf. Die Musiker liefern aus dem Orchestergraben, was auf der Bühne oft fehlt: ein vitales Spiel mit differenzierten Tönungen und Stimmungen. Dabei treten insbesondere Holz und Blech immer wieder markant und klangvoll hervor. Gounods Musik lädt in ihrer stilistischen Breite zwischen schwungvoller Tanzmusik, Innigkeit und bitter-süsslicher Romanze geradezu ein zu einer temperamentvollen Interpretation. Hier wird viel gewagt und viel gewonnen.
Ebenso machen Margarethe und ihr glaubhaft dargestellter Leidensweg andere Trübsal vergessen: Als fromme Sünderin entfaltet Evgenia Grekova mit einer hellen, zart timbrierten Sopranstimme eine von Emotion und Ratio, Glauben und Begehren gezeichnete Seelenlandschaft. Nur ihren Faust hat diese Margarethe noch nicht gefunden.