Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (28.02.2017)
Hans Neuenfels inszeniert im Zürcher Opernhaus Manfred Trojahns «Orest». Und vermittelt dabei mehr über die griechische Mythologie und ihre Aktualität als jedes Lehrbuch.
Während in Hollywood die Oscar-Kandidaten für die Fotografen defilierten, wurde auch im Zürcher Opernhaus ein roter Teppich ausgerollt. Denn Helena, die schönste Frau der griechischen Mythologie, kann sich nun mal nur auf dieser Unterlage fortbewegen. Auch sie sieht aus wie ein Filmstar, zumindest wenn sie ihre hochtoupierte Blondperücke über der Glatze trägt. Dass sie den Trojanischen Krieg ausgelöst hat, ist ihr nicht ganz klar; auch von den blutigen Fehden in ihrer Familie hat sie wenig mitbekommen. Ihr eigenes Altern nennt sie «Reife»: Warum auch nicht, wenn sie sogar Dionysos bezirzen kann und ihre selbstverliebten Kantilenen immer noch so jugendfrisch bewältigt?
Geschrieben hat diese Kantilenen der deutsche Komponist Manfred Trojahn, der mit der Amsterdamer Uraufführung des «Orest» 2011 seinen bisher grössten Erfolg gelandet hat. In Hannover und Wien ist die Oper nachgespielt worden, Zürich liefert nun die vierte Neuproduktion: eine bemerkenswerte Bilanz in einem Genre, in dem das Zeitgenössische meist nur in Form von schlagzeilensichernden Uraufführungen gefragt ist.
Zürich hat sich die Schlagzeilen nun halt anders geholt. Mit Hans Neuenfels nämlich, der mit dem «Orest» sein Regiedebüt im Opernhaus gibt (oder zumindest beinahe: 2013 hat er im Schiffbau eine Wagner-Hommage präsentiert, als Festspiel-Koproduktion von Opernhaus und Schauspielhaus). Neuenfels, mittlerweile 75 Jahre alt, wird gerne als Regieberserker gefeiert, weil er ein paar schöne Skandale verursacht hat – wobei das Skandalöse oft nur darin bestand, dass er besonders genau hingesehen hat: als er Aida in Frankfurt als Putzfrau auf die Bühne schickte etwa oder als er das wankelmütige Volk im Bayreuther «Lohengrin» in Rattenkostüme steckte.
Sprechen, singen, schreien
Auch Trojahns «Orest» ist alles andere als eine Berserkerei geworden. So wie Neuenfels nach der Premiere den Jubel ganz am Rand entgegennahm, so hat er sich auch mit seiner Inszenierung durchaus nicht ins Zentrum gedrängt: Viel eher hat er die Figuren beobachtet – und dann zusammen mit Katrin Connan (Bühne) und Andrea Schmidt-Futterer (Kostüme) mit wenigen Kniffen und Requisiten betont, was sie ausmacht. Eine gekrümmte Haltung, ein rasierter Nacken, geschmeidiger Samt oder eben ein roter Teppich: Das reicht, um zu vermitteln, was es mit Orests Schuldgefühlen und Elektras Härte, mit dem Opportunismus des Menelaos oder Helenas Glamoursucht auf sich hat.
Nach Lehrbuch sieht die Inszenierung trotzdem nicht aus, dafür sind die Figuren zu lebendig. Selbstverständlich ist das nicht, wie der Anfang zeigt: Da klammert sich der Muttermörder Orest im Patientenkittel ans Metallbett, geplagt von blutigen Erscheinungen, sirrenden Streichern und Stimmen, die seinen Namen flüstern, rufen, singen. Akustisch und optisch wird damit jedes Klischee bedient, das einem einfallen würde. Aber dann befreien sich die Szene und die Partitur gleichermassen – und die Sängerinnen und Sänger mit ihnen.
Ein ganz anderes Kaliber
Der Bariton Georg Nigl vor allem, der als Orest so selbstverständlich vom Sprechen ins Singen gerät, dass man den Eindruck hat, er habe seinen Part selbst erfunden. «Ich bin zertrümmert», klagt er einmal, und genau so klingt er: wie einer, dem jegliche Balance abhandengekommen ist, ein Spielball für Götter und Familienmitglieder; manchmal bleibt ihm nur noch das hohle Falsett, um seiner Verzweiflung Ausdruck zu geben.
Elektra, seine Schwester, ist da ein ganz anderes Kaliber. Ruxandra Donose gibt sie mit herbem Mezzosopran und entsprechender Gestik als eine, die den Tod akzeptiert, aber auf dem Weg dorthin möglichst viele mitnehmen will – es schaudert einen, wenn man sie hört. Es schaudert einen auch bei der schönen, ignoranten Helena (Claudia Boyle) und beim schmierigen Menelaos (Raymond Very): Solche Gestalten, solche Haltungen kennt man nur zu gut.
Einzig Hermione ist noch nicht in den bösen Kreislauf von Schuld und Rache und neuer Schuld geraten. Jung und rein ist sie, und so wird sie auch dargestellt von der 29-jährigen Kanadierin Claire de Sévigné, die derzeit das Internationale Opernstudio am Zürcher Opernhaus absolviert und nach der Blonde in der «Entführung aus dem Serail» bereits ihren zweiten grossen Auftritt hat.
Hommage an Strauss
Es hat viel mit dem Werk zu tun, dass die Sängerinnen und Sänger (auch Airam Hernandez als Apollo respektive Dionysos) so rundum überzeugen. Trojahn weiss, was er von Stimmen verlangen kann, wie er sie zur Geltung bringt: So wie er seine Helena mit vokalen Kapriolen in höchster Höhe beglückt, so hat er auch für alle anderen Figuren einen eigenen Stil gefunden. Und der bleibt selbst dann authentisch, wenn er – mit dem Schrei zu Beginn oder den «Orest»-Rufen – auf Richard Strauss’ «Elektra» verweist, deren Geschichte hier forterzählt wird.
Manche orchestrale Gesten und Farben erinnern ebenfalls an Strauss; aber auch im Graben entfesselt Trojahn unverkennbar eigene Kräfte. Es ist eine hochtourige Musik, die der Dirigent Erik Nielsen und die Philharmonia zu gestalten haben; zwar zieht sie sich immer wieder zurück auf berückende Soli, manchmal lässt sie die Figuren auch ganz allein. Aber meist wird angeheizt und aufgeputscht, die Klänge pulsieren, vibrieren, explodieren – und lassen den Sängern dennoch genügend Raum.
Dass das alles so gut gemacht ist und so perfekt aufgeht: Das ist denn auch das Einzige, was ein wenig irritiert. Manfred Trojahn hat sich als sein eigener Librettist einen Text geschaffen, der alles enthält, was er sich als Komponist wünscht. So steuert er in Worten und Tönen auf ein Ende hin, das fast zu rund erscheint für diese schlimme Geschichte. Auch Hans Neuenfels fand das offenbar und hat sich ganz zuletzt doch noch einen kleinen Eingriff erlaubt: Hermione verlässt zwar mit Orest diese Welt der göttergewollten Gewalt. Aber dann lässt sie ihn ziehen. Seinen neuen Weg muss er allein suchen.