Sigfried Schibli, Basler Zeitung (28.02.2017)
Die Oper «Orest» von Manfred Trojahn am Opernhaus Zürich
Ein Schrei zerreisst die Stille zu Beginn der Aufführung. Es ist der Schrei der Klytämnestra, die von ihrem Sohn Orest getötet wurde, nachdem sie selbst ihren Mann Agamemnon umgebracht hatte. Fortan muss Orest mit diesem Schrei, mit seiner Schuld leben, und es hilft wenig, dass ihn der Gott Apollo, der auch als Dionysos erscheint, zu dieser Rachehandlung legitimierte. Verantwortung kann man abgeben, Schuld nicht.
«Orest», die Oper des 1949 geborenen deutschen Komponisten Manfred Trojahn, ist ein Werk über Schuld und Sühne, aber auch über den Ungehorsam gegenüber den Göttern: Als seine Schwester Elektra Orest auffordert, Helena und deren Tochter Hermione zu töten, bringt Orest die von Apollo geliebte Helena ums Leben, verschont aber Hermione. Am Ende zieht er mit ihr in eine lichtdurchflutete Zukunft, aber sie bleibt auf halbem Weg stehen, misstrauisch gegenüber dem Mann, an dessen Händen Blut klebt.
Tönender Expressionismus
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass eine vor gut fünf Jahren in Amsterdam uraufgeführte moderne Oper nun schon die vierte Neuinszenierung erlebt, wie es mit Trojahns «Orest» in Zürich der Fall ist. Praktische Argumente mögen dafür nicht ohne Belang sein: Die Oper ist mit 80 Minuten Spieldauer kurz und überschaubar, sie braucht nur sechs Gesangssolisten auf der Bühne und kann überdies für sich in Anspruch nehmen, eine Art von Fortsetzung der expressionistischen Erfolgsoper «Elektra» von Richard Strauss zu sein. Von deren musikalischem Feuer ist auch Trojahns «Orest» entflammt, es gibt weite Sprünge in den vokalen Linien und im Orchester manche Klangballung, die man auch als organisierten Lärm empfinden kann.
Der in Düsseldorf lehrende Kompositionsprofessor Trojahn, der nie zur radikalen Avantgarde zählen wollte, hat die ältere Musiktradition tief in sich aufgesaugt. Er charakterisiert die Personen durch typische Klangfarben und musikalische Charaktere. So begleitet das solistische Fagott den gut meinenden Bruder von Orests Vater, Menelaos. Später wird das Englischhorn wie in Wagners «Tristan» eine Atmosphäre gefährlich aufgeladener Geschwisterliebe erzeugen, und in wilden Eruptionen wird das ganze Orchester Elektras Mordlust illustrieren. Dieser Komponist weiss, dass auch die neue Musik auf den Schultern der Tradition steht. Erik Nielsen, sonst Musikdirektor am Theater Basel, bringt mit dem Orchester Philharmonia Zürich diese dichte Partitur packend zum Klingen.
Wie im Comicstrip
Der Regisseur Hans Neuenfels (Bühne: Kathrin Connan) hat sich öfter mit mythologischen Sujets auseinandergesetzt, so vor einigen Jahren am Theater Basel mit «Penthesilea» von Othmar Schoeck. Für «Orest» hat der 75-Jährige die neo-antike Bilderwelt nicht neu erfinden müssen: Es gibt für den in den Wahnsinn getriebenen Orest das sattsam bekannte Gitterbett aus der Psychiatrie, Klytämnestra haucht im blutverschmierten Laken ihr Leben aus, und der Doppelgott Apollo/Dionysos trägt einen goldenen Lorbeerkranz auf dem Haupt und einen ebenso goldenen Phallus am Leib. Die Szene betritt er wie ein Handelsvertreter mit schwarzem Koffer, dem er eine goldene Lyra entnimmt – Bilder wie aus einem Comicstrip.
Die sprichwörtlich schöne Helena ist als Wiedergängerin von Brigitte Bardot gezeichnet, und der Page, der diverse Dienstleistungen erbringt, könnte einem Hotel aus dem Fin de Siècle entlehnt sein. Die Krieger, die dem Trojanischen Pferd entsteigen, sind erwartungsgemäss martialische Burschen, und die Zikade, von der in der fünften der sechs Szenen die Rede ist, ist als ferngesteuertes Objekt mit kindlichem Doppelkopf gezeichnet. Gelegentlich entdeckt Neuenfels in Trojahns Musik ein tänzerisches Element, etwa wenn er Orests Eltern in einer Rückblende eng miteinander tanzen lässt. Allzu viel tragen diese punktuellen Regieeinfälle nicht zum Verständnis des Ganzen bei.
Das Opernhaus Zürich hat eine erstklassige Besetzung zusammengetrommelt. Georg Nigl singt, in der Premiere als bronchitisgeschädigt gemeldet, einen vor allem lauten Orest, dem man die Schuldgefühle anhört und ansieht. Seine Schwester Elektra wird von Ruxandra Donose mit durchschlagskräftigem Mezzosopran verkörpert. Claudia Boyle ist die höhenintensive, stolze Helena, Claire de Sévigné ihre auch stimmlich anmutige Tochter Hermione. In den Männerpartien glänzen Raymond Very als Menelaos und Airam Hernandez als Apollo/Dionysos. Starker Applaus deutet darauf hin, dass diese moderne Oper in Zürich gut ankommt.