Reinmar Wagner, Südostschweiz (28.02.2017)
Es ist ein starkes Stück modernen Musiktheaters, die Oper «Orest» von Manfred Trojahn. Die Schweizer Erstaufführung am Sonntag im Zürcher Opernhaus wurde dank eines ausgezeich- neten Ensembles und einer zurückhaltend-souveränen Inszenierung zur umjubelten Premiere.
Mit einem grauenvollen Schrei beginnt die Oper: Es ist der Todesschrei Klytämnestras, die von ihrem Sohn Orest erschlagen wird, weil sie zusammen mit ihrem Liebhaber ihren Mann Agamemnon getötet hatte. Orests Rache scheint also gerecht, zumindest suggeriert das der Gott Apollo, der Orest zur Tat angestiftet hatte. Aber jetzt klingt dieser Todesschrei in Orests Geist nach, die Stimmen der Rachegöttinnen schwirren in seiner Seele, das weltliche Gesetz verlangt seinen Tod durch Steinigung. Und Apollo, der im Mythos noch als Deus ex machina für Seelenfrieden sorgt, wäscht hier seine Hände in Unschuld: Nicht sein Problem.
Wo das Ende der Anfang ist
Manfred Trojahn hat sich aus dem antiken Stoff des Euripides sein eigenes Libretto zu seiner «Orest»-Oper geschaffen. Es beginnt dort, wo Richard Strauss’ «Elektra» endet, und blickt tief in die Seele dieses Antihelden. Um ihn herum sind nicht nur die wispernden Stimmen der Rachegeister, auch andere versuchen ihn zu beeinflussen: Apollo, der sich bei Tro- jahn zwischendurch auch in Dionysos verwandelt, Elektra, noch immer unversöhnlich in ihrer Rache, Menelaos, zurückgekehrt aus Troja, Repräsentant weltliche Macht und Gerechtigkeit.
Helena an seiner Seite ist noch immer so schön, dass Apollon selbst ein Auge auf sie geworfen hat, womit er Elektras Mordpläne nach Kräften schürt und sie prompt das nächste Opfer von Orest wird, um als Sternbild in ewiger Schönheit zu leuchten. Nur eine will gar nichts, und könnte doch Orests Rettung werden: Hermione, die Tochter Helenas. Ihr Anblick weckt in Orest menschliche Gefühle, die so stark sind, dass er es schafft, selbst dem Gott ein entschiedenes Nein ins Gesicht zu schleudern und mit ihr in eine ungewisse, aber nicht hoffnungslose Zukunft zu verschwinden.
Ein Krankenbett, mehr braucht es nicht
Orests ganz persönliche Götterdämmerung ist das, und dafür öffnet sich die Tür in der gigantischen Gummizelle, in welcher der Regie-Altmeister Hans Neuenfels und die Bühnenbildnerin Katrin Connan Trojahns Oper in Zürich ansiedeln. Ein Krankenbett, mehr braucht es nicht als Ausstattung. Alles andere sehen wir durch Orests Augen: Die tote Mutter im blutigbefleckten Bett, die Heimkehr von Menelaos und Helena – passenderweise im Trojanischen Pferd – die Einflüsterungen Elektras, das Lavieren des Gottes, der Mord an Helena, der magische Blick in Hermiones Augen.
Neuenfels muss nicht viel mehr erzählen, und er will es auch nicht. Die Geschichte und das Libretto sind stark genug, es reicht das solide Handwerk des erfahrenen Regisseurs, verbunden mit sorgfältiger Aufmerksamkeit den Details der Personenführung gegenüber, die vom Ensemble glaubhaft in diese Figuren eingebracht werden. Ach ja, eine doppelköpfige Robotergrille hat auch einen eher rätselhaften Auftritt.
Zwischen brachial und zart: die Musik
Und stark ist auch die Musik. Dem 1949 geborenen Deutschen Manfred Trojahn ist ein Wurf zeitgenössischen Musiktheaters gelungen. Zürich ist bereits das vierte Opernhaus, das nach der Uraufführung 2011 in Amsterdam diesen «Orest» nachspielt. Die Partitur schillert zwischen brachialen Schlagzeug-Eruptionen und zarten Streicherkantilenen, zwischen wuchtig grundierten Schlägen, wuchernden Clustern und süssen Dur-Dreiklängen und geht überaus gekonnt mit den Möglichkeiten des Orchesters um.
Obwohl Trojahns Klänge sehr laut und brutal sein können, decken sie doch nie die Sänger zu, da hat der Opernpraktiker mit viel Sensibilität gedacht und gearbeitet, und hat damit dem Dirigenten einen stabilen, dankbaren Boden bereitet, den Erik Nielsen – aktuell Musikdirektor am Theater Basel – mit den souveränen Musikern des Zürcher Opernorchesters tadellos bestellte.
Dankbar sind auch die Partien der sechs Solisten, die von Trojahn unterschiedlich behandelt werden: Eher deklamatorisch mit Gewicht auf den Sprachnuancen Orest, den Georg Nigl trotz Bronchitis grandios sang, ebenso wie der Menelaos von Raymond Very. Für Helena und ihre Tochter Hermione erfand Trojahn hochvirtuose, von Sprüngen und Koloraturen durchsetzte Partien, die Claudia Boyle und Claire de Sévigné mühelos meisterten. Die Elektra hätte man sich von Ruxandra Donose noch etwas schärfer vorstellen können, beeindruckend dafür, wie Airam Hernandez die göttliche Doppelrolle Apollo/Dionysos meisterte.