Herbert Büttiker, Der Landbote (01.03.2017)
Die griechischen Tragiker haben auch ins Heute geblickt und inspirieren die zeitgenössische Oper – Manfred Trojahns «Orest» bringt den «Fluch der Atriden» und seine Entzauberung für uns eindringlich auf die Bühne.
Manfred Trojahns «Orest» nach der gleichnamigen Tragödie des Euripides (408 v. Chr.) wurde 2011 in Amsterdam uraufgeführt. Die Inszenierung am Opernhaus ist bereits die vierte, und wenn das an sich schon ein Indiz dafür ist, dass das Werk die seltene Chance hat, ins Repertoire gebettet zu werden, so ist der einhellige Erfolg der Zürcher Premiere, der anwesende Komponist eingeschlossen, ein Beweis für die Schubkraft dieser mit einer uralten Geschichte in die Gegenwart zündenden Dramatik. Dass die Musik ihre starken Bindungen an die längst klassische Moderne nicht verleugnet und die Oper inhaltlich an die «Elektra» von Strauss anschliesst, kommt dem Erfolg sicher entgegen, aber entscheidender ist wohl, dass sie einer Zeit etwas zu sagen hat, die täglich den scheinbar unverbrüchlichen Gesetzen geschuldeten Blutzoll misst.
Die griechische Mythologie kennt alle Spielarten menschlicher Grausamkeit und Niedertracht. Sprichwörtlich war den Griechen das «Mahl des Thyestes». Atreus rächt sich an seinem Bruder, indem er dessen Söhne schlachtet und sie ihm als Mahlzeit vorsetzt. Mord auf Mord bestimmt dann die Geschichte seiner Nachkommen, der Atriden. Sohn Agamemnon wird nach der Rückkehr vom Trojanischen Krieg von seiner Frau Klytämnestra und ihrem Liebhaber ermordet. Dessen Kinder wiederum, Orest und Elektra, bringen ihre Mutter samt Liebhaber um.
Entmachtung der Götter
Um das Ende dieses Wahnsinns geht es im Abschnitt der Atriden-Sage, die mit «Orestes» überschrieben ist – «Wir dienen Göttern, ob sie gut, ob sie böse sind», heisst es dazu bei Euripides. Der Auftritt des Deus ex Machina in seinem «Orestes» lässt allerdings vermuten, dass der Aufklärer Euripides von diesen Göttern nicht mehr sehr viel hielt. Über dessen ironischen Schluss geht Trojahns Oper aber wieder hinaus, indem sie eine humane Perspektive öffnet: Nicht der Machtspruch des Gottes löst den Knoten, sondern seine Entmachtung.
«Was werden wir tun, wenn es am Himmel keine Sterne und keine Götter mehr gibt...» – diese Frage erscheint als Zielpunkt dieser Deutung des antiken Stoffes in der letzten Szene in roter Leuchtschrift. Sie weist direkt ins Publikum, und sie ist ein Menetekel für den Gott auf der Bühne. Es ist der «alte Gott», der als Apoll und Dionysos die Menschen führt und verführt, den Orest überwindet.
Ein Augenblick
«Da ist eine Sehnsucht, die stärker ist als der Hass, eine Sehnsucht nach Liebe, nach klarer Luft und offenem Himmel!», hatte Orest dem Gott schon in der ersten Szene gesagt, verfolgt von den Stimmen der Mutter, die er erschlagen hat. Jetzt nachdem er Hermione, die er auf Geheiss der Schwester ebenfalls töten sollte, in die Augen geblickt hat, kann er dieser Sehnsucht folgen.
Hans Neuenfels inszeniert diesen emphatischen Augenblick – Mensch zu Mensch – mit einer fast didaktischen Deutlichkeit, aber auch stimmungsstark und in einer ebenso expressiven wie formalisierten Figurenzeichnung schlicht und berührend. Es gelingt ihm, was Oper vermag: die Bühne zum Ort der Wahrheit zu machen und der Utopie zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Komponist hat hier seinen Regisseur gefunden und der Regisseur seinen Komponisten. Der Sturz der Götter, die der Freiheit und Eigenverantwortung des Menschen entgegenstehen, ist sein Thema – unvergessen der Skandal um Mozarts «Idomeneo» in Berlin, der in einer stummen Szene mit der symbolischen Köpfung nicht nur des handlungsbestimmenden griechischen Meeresgottes Poseidon, sondern aller grossen Religionsstifter endete.
Formstrenge und Expressivität
Der Ruf eines Skandalregisseurs geht Hans Neuenfels voraus. Nun, zum ersten Mal mit einer Inszenierung am Opernhaus, erledigten sich Erwartungen in diese Richtung. Geschichte und Klangsprache wären ja durchaus für eine Berserker-Regie gut, und der Blick in die Videoclips der bisherigen Inszenierungen des Werks zeigen, dass vielerlei Zugänge möglich sind. Hier nun zielen weder das schlichte geometrische Bühnenbild (Katrin Connan) noch die teils eleganten Kostüme (Andrea Schmidt-Futterer) in die Richtung von Tatort- und Kaputte-Welt-Ästhetik, und der Auftritt der nackten schwarzen, an griechische Vasenmalerei gemahnenden Krieger, die aus einem blechernen trojanischen Pferd steigen, macht besonders deutlich, dass im expressiven Spiel eben auch die Formstrenge antiker Kunst mit inszeniert ist.
Den klassizistisch stilisierten Rahmen erfüllt umso heftiger die glühende und brodelnde Klanggestik des von Erik Nielsen geleiteten Orchesters. Die tiefen Holzbläser spielen eine eminente Rolle, aber am Werk ist der ganz grosse Apparat, und es ist eine virtuose, von Momenten gespannter Stille durchsetzte, lauernd nervöse Klangfabrik, die das Geschehen suggestiv befeuert.
Auf der Bühne agiert ein darstellerisch und sängerisch äusserst intensives und musikalisch äusserst gefordertes Ensemble mit Georg Nigl als Orest an der Spitze. Die geweiteten Augen, der gestische Aufruhr, die insistierende Deklamation, aber auch die weichen lyrischen Momente – alles fügt sich zur berührenden Gestalt des Getriebenen, der in der Psychiatrie gefangen ist, Visionen hat und Stimmen hört.
Ein Weg ins Offene
Bis ins Inzestuöse ist dieser Orest abhängig von Elektra, deren zorniges Wesen von Ruxandra Donose – von gewaltigen Klangeruptionen des Orchesters auch überschwemmt – impulsiv gestaltet wird. Panisch fleht er Menelaos um Hilfe, dem Raymond Very die selbstsichere Stimme des seine eigenen Ziele verfolgenden Taktikers gibt. In den Wahnsinn und zum Widerstand treibt ihn der Gott, den Airam Hernandez mit goldener Leier oder goldenem Phallus mit ironischer Überlegenheit wendig verkörpert – bis er sich kleinlaut in den Sternenhimmel zurückzieht.
Immerhin begleitet ihn dorthin, wie auch Sterngucker wissen, die schöne Helena: ein abgehobenes Wesen, für das Claudia Boyle die zu den hochhackigen Schuhen passenden Spitzentöne versprüht und Intervallsprünge vollführt. Alle haben sie am Ende ihren Ort: Elektra, mit den Händen vor den Augen, ist erstarrt, Menelaos ebenso, Orest und Hermione, Helenas Tochter – mit Claire de Sévigné auch stimmlich die Lichtgestalt im Drama – schreiten zum Hintergrund ins Offene.