So absurd, so wahr

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (04.04.2017)

Werther, 02.04.2017, Zürich

Juan Diego Flórez ist der umjubelte Star in Jules Massenets «Werther», der am Zürcher Opernhaus Premiere hatte. Aber der Tenor ist nicht der einzige Grund, diese Aufführung zu besuchen.

Wenn einer nach einem Kopfschuss noch zwanzig Minuten weitersingt – klar, dann sind wir in der Oper. Und wenn das kein bisschen lächerlich wirkt: Dann sind wir in einer sehr guten Aufführung. Also zum Beispiel in der neuen Zürcher Produktion von Jules Massenet 1892 erstmals gespieltem «Werther».

Der vierte Akt, während dessen Vorspiel der unglücklich verliebte Werther sich hinter der Bühne den tödlichen Schuss setzt, gehört zum Schönsten, Wahrsten, Traurigsten, was in den letzten Jahren auf dieser Bühne zu sehen und zu hören war. Da öffnen sich plötzlich alle Fenster und Schränke in der Stube, die zuvor die Protagonisten beengt hatte. Der nächtliche Schneehimmel verwandelt sich ins Universum, irgendwann driftet weit hinten die Erde vorbei. Ein älteres Paar tanzt durch den Raum – als andere Möglichkeit, als Bild eines Glücks, das Werther und Charlotte nicht mehr erleben werden.

Der Moment zwischen Schuss und Tod wird so auf eine kleine Ewigkeit gedehnt, und die Liebenden haben endlich Zeit, zu sich und zueinanderzukommen. Das geht ganz ohne dramatische Umarmungen, ohne verzweifelte Kniefälle und andere Operngesten. Sie sind nur da und singen, als Menschen, die sich von allem gelöst haben: von den Pflichten, Schuldgefühlen, Sehnsüchten, die ihr Leben bisher bestimmten. Vom Leben überhaupt – ganz egal, ob es danach noch weitergeht oder nicht. Und auch von der Liebe, die nicht möglich war und es nun für einen unendlich kostbaren Sekundenbruchteil doch noch wurde.

Socken und Träume

So etwas kann nur die Oper. Und so etwas können nur Sänger, Musiker, Regisseurinnen, die sich ganz auf ein Stück einlassen. Alles läuft an diesem Abend auf diesen Schluss hin: Schon Klaus Grünbergs Bühnenbild, dieser hölzerne, perspektivisch verzerrte Raum, der auf einen unsichtbaren Fluchtpunkt verweist. Ein fast reales Familienleben spielt sich ab hier, Regisseurin Tatjana Gürbaca lässt alle durcheinanderwuseln: die Kinder, die Besucher, alte Leute, die man auch noch irgendwie zu betreuen hat, Charlotte. Da werden Socken zusammengelegt und Brotscheiben geschnitten, einer der Gäste schnappt sich ein Springseil. Da wirds einem beim Zuschauen fast schon zu viel, auch weil das Gehopse auf diesem Holzboden gleichzeitig ein Gepolter ist.

Aber das ist schon richtig so, man soll die Enge dieses Alltags spüren, den Druck der Pflicht, der für Charlotte zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Nur dann versteht man, was dieser Werther bedeutet, der aus einer ganz anderen Welt zu kommen scheint, der sich nicht um Socken kümmert, sondern die Natur besingt. Die Zeit steht dann still, die Familienszenen erstarren zum Standbild. Und da und dort gibt es Risse in der Realität. Dann steigen Ballgäste in glitzernden Kostümen aus den Truhen und Schränken – personifizierte Versprechen, die sich für Charlotte wenigstens einen glücklichen Abend lang einlösen werden.

Anna Stéphany gibt diese Charlotte, mit einer Stimme, die ihre Träume verrät (und neben Werther auch das Publikum bezaubert). Da ist ein Schillern in diesem Mezzosopran, eine Tiefe, die nicht zur braven Gattin passt, die sie im zweiten Akt geworden ist. Das wird umso deutlicher, als auch die übrigen Figuren ideal besetzt sind: Da ist Albert (Audun Iversen), der Gatte mit dem vertrauenerweckenden Bariton, der aber stahlhart wird, sobald er merkt, wie viel Werther seiner Charlotte bedeutet. Da ist Mélissa Petit als Sophie, die mit glöckchenhellem Sopran über jeden Kummer hinwegsingt. Und da sind die Kinder, die Statisten, die Sänger der kleineren Partien: präzis geführt, voll und ganz bei der Sache. Was es bedeutet, wenn auch sogenannte Nebenrollen gestaltet werden, als seien es Hauptrollen – auch das ist in dieser Aufführung zu erleben.

Aber klar, die Hauptfigur ist Werther und damit der peruanische Tenor Juan Diego Flórez (TA vom 31. März). Bisher war er nur für Wiederaufnahmen nach Zürich gereist, seine erste geplante Premiere (Bellinis «I puritani» in der letzten Saison) hat er abgesagt, weil er das Stück aus seinem Repertoire gestrichen hatte. Nun hat es doch noch geklappt mit einem grossen Auftritt, in einer Rolle, an die er sich langsam herangetastet hat: erst mit einzelnen Arien, dann mit einer konzertanten Aufführung, kürzlich in einer ersten Inszenierung in Bologna. Die Zürcher Version ist seine zweite, und dass sie ihm zusagt, ist nicht zu übersehen.

Orchestrale Porträts

Flórez’ Werther wirkt tatsächlich fremd in der Welt seiner Charlotte, mit seinen fast schlafwandlerisch ruhigen Bewegungen, dem dunklen Mantel (Kostüme: Silke Willrett) und mit seiner Stimme, die sich allen Zwängen entzieht. Hell und still kann sie sein oder auch leidenschaftlich, schwärmerisch, melancholisch, tieftraurig. Man könnte nun seine bewundernswerte Technik rühmen, die Spitzentöne, die dramatischen Ausbrüche. Aber noch viel beeindruckender sind jene Momente, in denen scheinbar kaum etwas passiert; in denen Flórez Werthers Emotionen vermittelt, gerade weil er sie nicht unterstreicht.

Das überlässt er der Philharmonia Zürich, die an diesem Abend in Hochform ist. Dirigiert wird sie von Cornelius Meister, der mit dem Trio Gürbaca/Grünberg/Willrett schon die «Zauberflöte» auf die Zürcher Bühne gebracht hat und nun bereits mit den ersten zwei Akkorden der Ouvertüre klarmacht, worum es geht: Unauffällig ist der erste, der zweite dehnt die Normen bis aufs Äusserste – und die Musiker laden ihn auf mit einer Intensität, die in den folgenden zweieinhalb Stunden nicht nachlässt.

Ganz eng begleitet die Musik die Figuren. Charlotte, die bei Goethe als Adressatin von Werthers Briefen eine Projektionsfigur bleibt, wird auch im Orchester als tragische Figur, als grosse Liebende porträtiert (unter anderem mit einer der schönsten Fagottmelodien der Musikgeschichte). Und bei Werthers Tod, der im Roman von einem «Herausgeber» rapportiert wird, ist man in der Oper dabei. Bis zum letzten, noch weit über den Jubel der Premierenbesucher hinaus nachklingenden Ton.