Die Leiden der jungen Charlotte

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (04.04.2017)

Werther, 02.04.2017, Zürich

Entrückt zwischen Wachen und Träumen: Mit Juan Diego Flórez in der Titelrolle bietet Jules Massenets «Werther» am Opernhaus Zürich ein Bilderbuch-Beispiel für stimmiges Musiktheater.

Der Erlöser im blauen Frack mit gelber Weste kommt nicht. Goethes dichtender Paradiesvogel, ein grenzenlos und somit absehbar tödlich Liebender der Weltliteratur, bleibt eine bildungsbürgerliche Hoffnung an diesem Abend. Stattdessen kommt er, der Latin Lover aus Peru: Juan Diego Flórez, derzeit unangefochten der beste Vertreter seines raren Belcanto-Fachs, des Tenore di grazia. Und Flórez, im schlichten weissen Hemd unter schwarzem Mantel, hebt an zu singen, und die Zeit steht still: «Je ne sais, si je veille ou si je rêve encore …»

Entrückt zwischen Wachen und Träumen – es dauert an diesem Abend im Opernhaus Zürich nicht einmal zehn Minuten, bis sich jener besondere Zauber entfaltet, wie ihn nur das Musiktheater in seinen besten Momenten verbreiten kann: eine Magie, die das Publikum gebannt jedes Husten vergessen und unwillkürlich den Atem anhalten lässt. Denn was wir erleben in diesem Augenblick, ist nicht der profane Auftritt irgendeines Sängers, sondern eine Erscheinung: eine Epiphanie, deren irrealer Schimmer in die Beschaulichkeit einer sehr kleinen Welt hineinleuchtet.

Ein wegsortiertes Leben

Denn klein und furchtbar eng und fürchterlich bieder wirkt die Welt, in die Tatjana Gürbaca, die Regisseurin, und ihr Bühnenbildner Klaus Grünberg die Handlung von Jules Massenets Goethe-Oper «Werther» am Opernhaus Zürich verbannt haben. Keine zwei Meter tief ist die Spielfläche in diesem Setzkasten-Albtraum zwischen Holzimitat-Wänden und Überbleibseln Gelsenkirchener Barocks, worin es für alle Dinge des Alltags eine Ablage, ein Fach, eine Schublade oder einen Schrank mit Schiebetür gibt. Penibel wegsortiert ist darin das Leben von Charlotte, ihrem rechtschaffenen Gatten Albert und dem Amtmann (Cheyne Davidson), der gern unter einem Exemplar dieser Zeitung den Mittagsschlaf des Gerechten schläft.

Doch als Juan Diego Flórez in dieses gerahmte Bild des Biedersinns einbricht, will es die Türen sprengen und die Fenster aufreissen, der klaustrophobische Raum selbst scheint an Tiefe zu gewinnen – und an Ahnungen jener poetischen Gegenwelt, die hier fein säuberlich in Schubladen gesperrt worden ist.

Gürbaca lässt Flórez, den grossen Namen, der Zürichs Opernhaus wie zu Pereiras Zeiten volle Reihen beschert, tatsächlich ganz Sänger, Ausnahmekünstler, Star, mit einem Wort: er selber sein. Es bedarf des Umwegs nicht über die hoffnungsblaue Dichterfigur, denn strenggenommen erzählt die Regisseurin gar nicht von Werthers wohlbekanntem Schicksal; vielmehr ist es Charlottes Geschichte – die Geschichte einer versuchten Selbstbefreiung, die scheitern muss, weil hymnische Oden nach Ossian und pantheistische Schwärmereien à la Goethe partout nicht in Gelsenkirchener Schubladen passen.

Vergebliche Flucht

Das ist kühn, verärgert einige Zuschauer hörbar, verkleinert aber die – literarisch ohnehin unsterblichen – Figuren nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Charlotte, die so leicht in den Ruch der verhärmten, vor der Zeit verblühten «guten Seele» gerät, wird hier als ebenso leidenschaftlich und grenzenlos liebende Frau erkennbar, die mit dieser Liebe nicht in erster Linie um religiöser oder moralischer Schranken willen hadert, sondern weil mit den Männern Werther und Albert zwei unvereinbare Lebensentwürfe verbunden sind, die sie gleichermassen unglücklich machen.

Eines der eindringlichsten Bilder dieses dichten Abends ist denn auch jene stumme Pantomime vor geschlossenem schwarzem Vorhang, auf dem noch ein Nachbild der Amtsstube nachglüht, in der Charlotte wie verzweifelt versucht, aus ebendiesem Bild zu fliehen – um am Ende doch wieder nur zwischen den Schränken und Türen anzukommen.

Anna Stéphany spielt dies mit einer Intensität, die vergessen macht, dass die Mezzosopranistin an diesem Abend ihr Rollendebüt als Charlotte absolviert. Namentlich im nahtlos verbundenen zweiten und dritten Akt steht sie – obgleich ein unschön quakendes Saxofon-Solo ihr die Arie «Va! Laisse couler mes larmes» stört – gleichberechtigt neben Flórez.

Ja, der Fokus schwenkt unmerklich immer mehr auf diese so anrührend leidende, innerlich zerrissene und doch stolze Frauenfigur hinüber, dass Flórez bei der Sterbeszene Werthers «Ecoute bien! La-bas, au fond du cimetière» buchstäblich sein Letztes geben muss, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Das Ergebnis ist ein weiterer jener magischen Momente bei dieser Aufführung, in denen man kaum mehr zu atmen wagt – so echt und doch zugleich nobel gestalterisch überhöht wirkt dieses Ende. Flórez, der die Titelpartie in Massenets «Drame lyrique» von 1892 erst seit einem Jahr öffentlich singt, hat einen eigenen Zugang zum heiklen französischen Fach gefunden.

Das reicht im Klang der Nasale und im stilistischen Feinschliff noch nicht ganz an den in der Rolle unübertroffenen Alfredo Kraus heran, der etwa Werthers Arie «Pourquoi me réveiller» schlanker, heller und selbst in den Aufschwüngen noch mit geradezu existenzieller Verinnerlichung sang. Dafür fliesst bei Flórez einiges von der – stets kontrollierten – Leidenschaft und vokalen Hochseil-Artistik ein, die seine Rollengestaltung im italienischen Fach kennzeichnen.

Neben diesem in Wort und Gesang Erlösung verheissenden Poeten hätte jeder treusorgende Gatte einen schweren Stand, doch es gehört zu den Feinheiten von Gürbacas Regie, dass sie die Gestalt des Albert nicht diffamiert, sondern auch ihn als Liebenden zeigt, dem erst Einsicht und bitterste Enttäuschung die Kaltblütigkeit verleihen, dem lebensmüden Werther die Pistolen aushändigen zu lassen – mit dem vorhersehbaren, aber in Kauf genommenen Ergebnis.

Der Bariton Audun Iversen spart diesen dann umso heftigeren Umschwung zu Hass und Eifersucht bis in seine letzten Passagen auf und hinterlässt damit eine geradezu dämonische Wirkung. Auch die Nebenrolle der Sophie wertet die Regie stimmig auf, indem sie die anmutige Mélissa Petit zum verliebten Backfisch stilisiert, der durch Werther die gleiche Zurückweisung erleidet wie er selbst durch Charlotte – was die beiden Frauen zu komplementären Spiegelfiguren macht.

Erlösung im Traum?

Das aussergewöhnliche szenische Niveau findet eine Entsprechung im Graben. Hier glückt Cornelius Meister, dem designierten Generalmusikdirektor der Oper Stuttgart ab 2018, eine Lehrstunde in der kammermusikalischen Durchleuchtung der Partitur, gerade in den oft solistisch isolierten Holzbläsern. Das Tutti tönt dagegen – ein Problem der Haus-Akustik – mitunter zu massig (und im Blech unsauber).

Wie stimmig Musik und Regie ineinandergreifen, wenn sie mit feinem Pinsel malen, zeigt indes die wiederum traumentrückte Schlussszene: Zu Werthers ganz zurückgenommenem Sterbegesang tanzt ein älteres Paar unendlich langsam über die Bühne, und das anfangs irritierende Bild macht schmerzhaft klar: Diese Zukunft wird es für Charlotte, die sich die Erlösung durch den Sänger-Poeten womöglich auch bloss erträumt hat, niemals geben.