Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (04.04.2017)
In Jules Massenets «Werther» am Opernhaus Zürich laufen zunächst die Musik und die Ideen von Regisseurin Tatjana Gürbaca nebeneinander her. Dann entsteht doch noch Intensität.
Bei Goethe liebt Werther Charlotte, in Jules Massenets Version des Briefromans und der Inszenierung durch Tatjana Gürbaca am Opernhaus liebt vor allem Charlotte Werther. Dazwischen steht der wackere Albert. Der ist mit Charlotte verlobt, da gehört sich die baldige Heirat: Statt der grossen Liebe warten Kinder und Sockensortieren auf Charlotte. Leider gibt die französische Veroperung den Fokuswechsel der Inszenierung nicht wirklich her.
Die Alterungsprozesse laufen schnell im Zürcher Werther. Wo im ersten Akt (und akustisch nochmals am Schluss) sieben Kinder agieren und erfreulich sicher und variabel singen, sind schon im zweiten Akt Greise. Die Kinder werden von den unheimlich-buffonesken Nebenfiguren Schmitt und Johann betatscht, den Alten klauen sie den Kuchen. Nur für Charlotte bleibt alles gleich: Mutterersatz für die Geschwister, in der Ehe die Perspektive, absolut berechenbar den 50. Hochzeitstag planen zu können. Dabei ist mit Werther die grosse, unbedingte und utopische Liebe in ihr Leben getreten.
Werther kommt wie ein Museumsbesucher von aussen ans enge, perspektivisch verkürzte Holzhaus, das Klaus Grünberg als Einheitsbühnenbild gebaut hat. Das ist klug und aus der Perspektive der Frauen gedacht und in perfekt stimmige Bilder gepackt, wie die hereinwehende Ballgesellschaft oder die finale Öffnung zum Weltall.
Die grossen Gefühle im dritten Akt
Das Stück fokussiert so auf das Innenleben der beiden Protagonisten, dass die Ideen der Inszenierung und die Musik die ersten beiden Akte sich nicht kontrastieren – was eine Qualität wäre –, sondern wie unverbunden nebeneinander herlaufen. Erst nach der Pause entsteht Intensität, wo so gut wie nur noch das tragische Paar auf der Bühne steht und die grossen Gefühle spielen und singen kann. So haben es Mélissa Petit als Charlottes Schwester Sophie und Audun Iversen (Albert) trotz formidabler vokaler Gestaltung als Figuren extrem schwierig. Auch Anna Stéphanys Charlotte ist lange vor allem korrekt, bis sie im dritten Akt wie befreit singen kann und ihr bruchloser Mezzo zur Geltung kommt.
Angesetzt wurde die Produktion wohl aber für ihn: Juan Diego Florez, der im französischen Fach so fantastisch leicht singt wie vorher bei Rossini. Das gelingt ihm eindrücklich, schon sprachlich und unvergleichlich dort, wo er süsseste Pianofäden spannen kann. Mit seiner nicht sehr grossen, schlank geführten, aber bis in höchste Höhen perfekt fokussierten Stimme hat Florez die Power für die grossen Ausbrüche. Nur setzt er die ziemlich oft so gross ein – als Teil seiner Rolleninterpretation oder weil der Dirigent Cornelius Meister ihn auch dazu zwingt. Wie Guillotinenmesser fallen die ersten Akkorde, Akzente werden hart geschlagen, die Lautstärke ist meist entsprechend hoch. So versucht die Regie die Emotionalität des Stückes zu unterlaufen und zu erklären, das Dirigat peitscht die Musik hinein und macht sie so äusserlich. Das wirkt, wie wenn das eine das andere kompensieren wollte.