Träumend in Orchesterwogen

Christian Berzins, NZZ am Sonntag (09.04.2017)

Werther, 02.04.2017, Zürich

Die Zeiten, als französische Musik rosarot duftende Klangwolken entfachen musste, sind in Zürich vorbei – beim Tonhalle-Orchester wie bei der Philharmonia. Der 37-jährige Deutsche Cornelius Meister geht im Opernhaus Jules Massenets «Werther» ungemein forsch an, sucht dramatische Zuspitzungen, dicke Klangmassen – und findet sie auch. Dieser durchaus vertretbare Gestus zieht sich im Gesang weiter und hilft bei Anna Stéphany (Charlotte) und Audun Iversen (Albert), Schwächen zu kaschieren. Bei Titelheld Juan Diego Flórez verhält es sich etwas anders. Bisweilen will man die Orchesterwogen zurückhalten, die über ihn hereinzubrechen drohen, auch wenn er sich mutig dagegen anstemmt. Warum ihn antreiben, warum seinen vibrierenden Schönheiten, diesen zauberhaften Zwischentönen, nicht einfach einen schimmernden Teppich geben? Flórez lässt sich allerdings anstecken. In der Arie «Pourquoi me réveiller» ersteht die Stimme traumhaft schön, er macht die elegantesten Legati und süssesten Verzögerungen. Doch schon nach der dem zweiten «réveiller» steigt er auf zu einem allzu simpel triumphierenden Fortissimo-«ô». Gewiss: Er sinkt sofort wieder zurück in ein balsamisches Pianissimo. Aber warum das Leid nach aussen schreien, wo er doch in dieser Inszenierung sowieso vielmehr eine Traumgestalt sein soll? Regisseurin Tatjana Gürbaca zeigt ihn quasi als Vision, die in der starren Welt von Charlotte aufleuchtet. Von der Kugel getroffen fällt Werther im Finale in ihre Wohnung, alsbald fliegt das – sonst monoton langweilige – Puppenhaus mitsamt dem Liebespaar davon ins All, und der Abend erhält endlich eine Magie. Vorher kriegte man schulmeisterlich vorgeführt, wie eng und starr das Eheleben Charlottes ist. Dinge, die jeder Opernfreund schnell kapiert und nicht zwei Stunden durchexerziert haben müsste.