Diese Kameliendame ist eine Powerfrau

Urs Mattenberger, Luzerner Zeitung (04.04.2017)

La Traviata, 02.04.2017, Luzern

Benedikt von Peters Vorzeige-Inszenierung von Verdis «La Traviata» bietet in Luzern gleich mehrere Premieren in einer: durch die überwältigende Nicole Chevalier allein auf der Bühne wie durch den Surround-Klang von Sängern und Orchester.

Das hat man im Luzerner Theater kaum je erlebt. Am Sonntag erhob sich das Publikum in der restlos ausverkauften Premiere von Giuseppe Verdis «La Traviata» wie aus der Pistole geschossen, um die Hauptdarstellerin mit Standing Ovations zu feiern. Denn sie, die amerikanische Sopranistin Nicole Chevalier, hatte – eine weitere Premiere – zweieinhalb Stunden lang ohne Pause allein auf der Bühne gestanden.

Schon bei der Wahl Benedikt von Peters zum Intendanten des Theaters wurde diese «Traviata» von 2011 als Referenz für sein «Raumtheater» genannt. Und viele fragten sich wohl wie Chevalier, als sie erfuhr, dass sie allein auf der Bühne agieren würde: «O Gott, wie ist das möglich?» (Ausgabe vom Donnerstag).

Raumtheater mit Surround-Klang

Nun, es ist leichter, als man sich das vorgestellt hatte. Wenn diese Violetta, entblösst bis auf das Mieder, mit dem Satz «This is for you» die Bühne betritt, wird rasch klar: Hier stellt eine Frau mit wenigen Requisiten auf der Bühne ihr Leben nach. Sektgläser verweisen auf die Trinkgelage der Pariser Gesellschaft, Stühle gruppiert sie zum häuslichen Idyll, das ihr Alfredos Liebe verheisst. Schminktisch, Spiegel und Perücke verweisen auf ihr Leben als Kurtisane. Eine fahrbare Tür gaukelt Fluchtwege vor, die alle zurück auf die Bühne führen.

Das Spiel in diesem Bühnenkäfig beginnt mit einem befreienden Knall, wenn zur Festszene Konfetti-Raketen quer über die Bühne schiessen. Er kommt umso überraschender, als das Luzerner Sinfonieorchester – exzellent unter der Leitung von Clemens Heil – die Ouvertüre bis in magische Details ausgekostet hat.

Der körperhafte Klang des hinter einem Vorhang schemenhaft sichtbaren Orchesters auf der Bühne zeigt bereits die akustischen Vorzüge dieses Raumtheaters: Wenn sich die Musik mit den rundum auf Balkonen platzierten Stimmen der übrigen Solisten und des schlagkräftigen Chors verbindet, ergibt sich ein Surround-Klang, wie man ihn im trockenen Luzerner Theater ebenfalls noch nicht gehört hat.

Mittendrin ist Nicole Chevalier keine schwindsüchtige Kameliendame, sondern eine verletzliche Powerfrau. Und bringt auf der Bühne ein doppeltes Kunststück fertig: Sie vergegenwärtigt die Handlung wie in einer Halluzination, wenn sie sich die bedrängenden Stimmen mit Händen vom Leib zu halten sucht. Und sie lässt die Imagination in Realität kippen, wenn sie mit irrem Blick sehnsüchtig nach dem Geliebten Alfredo hoch oben im zweiten Balkon sucht.

Auch die weiteren Rollen sind vorzüglich besetzt (mit warmem Schmelz: der Tenor Diego Silva als Alfredo; unerbittlich-steif: Claudio Otelli als sein Vater Germont). Aber Chevalier bündelt das Geschehen sogartig in ihrem Spiel und Gesang. Ja, ihre Darstellung ist weit über allen expressiven Schöngesang hinaus Theater mit Haut und Haar. Es ist geradezu beängstigend, wie sich diese Traviata verausgabt – singend, stammelnd, zornig und auch mal mit einem Schrei, der Verdis «Gioia»-Überschwang ins Körperliche übersetzt.

Ein Paradebeispiel für von Peters Raumtheater ist dieses Bühnensolo, weil sich der «psychoanalytische» Spielraum damit in den Raum weitet und das ganze Theater zur Bühne macht. Das Wandern der Stimmen auf den Balkonen deutet nah an den Zuschauern Aktionen an. Ja, ohne den Umbau des Theaters zum «Globe» (zu Beginn der aktuellen Spielzeit) erlebt man den Raum als Amphitheater, in dem alles eins ist.

Empfehlung auch für Oper-Neulinge

Darin kommt das Grundthema Oper ganz unverstellt zur Geltung, weshalb sich diese Inszenierung auch für Oper-Neulinge eignen dürfte. Dass hier eine Frau nicht für ihre Leistung geliebt werden will, hätten wir auch ohne den aufgesetzt wirkenden Monolog begriffen, in dem Violetta ihre körperlichen Vorzüge zum Thema macht. Auch wenn von Peter diese Sterbeszene dekorativ verzettelt: Bis zum konsequenten Schluss löst diese Inszenierung sein Credo ein, dass Radikalität im Theater nicht mit Provokationen erkauft werden muss. Das muss man erlebt haben!