Performance für nur eine Sängerin

Felix Michel, Neue Zürcher Zeitung (05.04.2017)

La Traviata, 02.04.2017, Luzern

Verdis «La Traviata» in Luzern

So einfach wie schlagend ist der Grundgedanke, den Benedikt von Peter seiner «Traviata»-Inszenierung zugrunde legt: Er macht die Oper zur Ein-Frau-Performance, in der allein die Titelfigur Violetta Valéry auf der Bühne agiert. Diese Lesart soll Violettas Verlorenheit ins Psychotische radikalisieren, ihre Liebessehnsucht als Wahn entlarven. Der Regisseur hat damit 2011 an der Staatsoper Hannover für Aufsehen gesorgt. Später hat er die Inszenierung auch in Bremen präsentiert und sie nun nach Luzern mitgebracht, wo von Peter seit Beginn der Spielzeit als Intendant wirkt.

Da die Produktion eng an die zentrale Sängerdarstellerin gekoppelt ist, verkörpert wiederum Nicole Chevalier die Violetta. Ein stupender Parforce-Akt: Zweieinhalb pausenlose Stunden lang leiht die Sopranistin der von ihrer Liebesobsession getriebenen Violetta Stimme und Körper – mit jeder bebenden Faser. Und das Erstaunlichste dabei: Die vokale Darstellung leidet darunter nie. Ihre fokussierte, eher konsonantenbetonte Gestaltung braucht den Vergleich mit berühmten Vorgängerinnen nicht zu scheuen. Kein Wunder also, dass sich die Spannung am Ende in euphorischem Applaus entlädt.

Wenn freilich Violetta/Chevalier beispielsweise während ihres – schön und rührend gesungenen – «Addio del passato» virtuos durch die Sitzreihen des Parketts kraxelt, mag sich in die Bewunderung dennoch die Frage mischen: Warum eigentlich tut sie dies? So packend und griffig das Regiekonzept zunächst anmutet, so diffus bleibt es bei genauerer Betrachtung. Weder die metapoetische Volte – auch die Sängerin gebe sich wie die von ihr gespielte Kurtisane in gewissem Sinne preis – noch die angestrebte diagnostische Stossrichtung – die von der Illusion romantischer Liebe liebesunfähig gemachte Gegenwart – vermögen theatralisch vollends zu überzeugen, so nachdrücklich das Programmheft sie auch formuliert.

Paradoxerweise nähern sich sowohl die wirbelnde Hauptfigur als auch die im Dunkeln bleibenden restlichen Rollen in ihrer je eigenen szenischen Unverbindlichkeit einer überwunden geglaubten Unsitte an: dem Rampensingen. Die altbackenen händeringenden Sängergesten sind nun einfach durch das Vokabular der Performance ersetzt – panische Blicke, konvulsivische Bewegungen, regelmässiges Wechseln der spärlichen Kleider, hie und da ein Möbelwurf.

Die Idee, ein «Monologisches» in der Oper freizupräparieren, steht zudem in Widerspruch zu einer der grössten Qualitäten von Verdi und seinem Librettisten Francesco Maria Piave: zu der Fähigkeit nämlich, Zwischenmenschliches zu durchleuchten. Bezeichnenderweise entfalten gerade die grossen mehrteiligen Szenen, etwa das grandios komponierte Duett Violetta - Germont, einen dramatischen Sog und eine erzählende Dringlichkeit, die dem Regiekonzept gänzlich zuwiderlaufen – was seine am Ende eben doch begrenzte Ergiebigkeit offenbart.

Ihre Kraft beziehen jene Szenen auch aus der sorgfältigen musikalischen Disposition. Der Dirigent Clemens Heil wählt oft eigenwillig gemessene, dank den filigran spielenden Streichern dennoch spritzig klingende Tempi, die sich als Ausgangspunkt durchdachter Steigerungen entpuppen. Bald mischt er dosierte Blechbläser-Wärme bei, bald lässt er die tiefen Streicher «sul tasto» spielen, und insgesamt wird Verdis mitunter derber Opernmusik ein äusserst reizvoller sinfonischer Ernst der Gestaltung zuteil.

Claudio Otelli singt (zur Rolle passend) einen anfangs etwas raubeinigen Germont, Diego Silva als Alfredo glänzt als auffallend stimmschöner Tenor, der ungeniert, aber sehr geschmackvoll in der Belcanto-Tradition seines Fachs steht; und aufhorchen lässt nicht zuletzt der von Mark Daver vorbereitete Chor. Auch dafür lohnt sich eine Reise nach Luzern.