Nicole Aeschlimann , zentral+ (03.04.2017)
Eine Frau, eine Bühne – das Luzerner Theater zeigt die Oper «La Traviata» in der Inszenierung von Benedikt von Peter. Nicole Chevalier brilliert in der Rolle der Kurtisane Violetta Valéry. Sie gibt dem Publikum alles und bleibt trotzdem allein.
Was für eine Aufführung: Nicole Chevalier als Violetta Valéry steht über zwei Stunden auf der Bühne – alleine und ohne Pause. Eine Leistung, die höchste Achtung verdient. Dies verlangt der Darstellerin alles ab. Sie wirbelt, dem Wahnsinn nahe, auf der Bühne umher. Sie singt in jeder erdenklichen Position. Sie schmeisst mit Schuhen und Stühlen, bastelt sich ein Zelt zum Schlafen, steigt in der ersten Reihe auf einen (besetzten) Stuhl und singt sich die Seele aus dem Leib.
Von Hannover nach Luzern
Die Grenzen in dieser Inszenierung scheinen sich aufzulösen. Der Chor, wie auch die anderen Darsteller befinden sich im Publikum. Das Orchester ist auf der Bühne und die Musik erklingt schon mal von ausserhalb des Theatersaals. Die Handlung der drei Akte geht fliessend ineinander über. Die Aufführung erweckt den Eindruck, in einem zeitlosen Raum stattzufinden. Obwohl Giuseppe Verdi die Handlung ins Paris der 1850er Jahre gelegt hat, gibt es in dieser Fassung keine visuellen Hinweise auf diese Zeit.
Die Inszenierung von Benedikt von Peter wurde bereits in der Staatsoper Hannover aufgeführt. Die Rolle der Kurtisane spielte auch in Hannover Nicole Chevalier. «Die Rolle ist ihr auf den Leib geschrieben worden», meint Brigitte Heusinger, Dramaturgin des Luzerner Theaters.
«Die Hure ist am Schluss tot»
Worum geht’s? Die Kurtisane Violetta Valéry gibt nach langer Krankheit ein Fest in ihrem Salon. Dort lernt sie Alfredo kennen, der sie seit einem Jahr liebt. Zuerst schickt sie ihn weg, da sie mit Liebe nichts anzufangen weiss. Doch bald merkt sie, dass er etwas in ihr berührt hat. Drei Monate später lebt sie mit Alfredo zusammen. Da bekommt sie Besuch von dessen Vater. Dieser will, dass sie sich von seinem Sohn trennt, weil sie Schande über die Familie bringe. Violetta opfert sich und verlässt Alfredo. Durch einen unglücklichen Zufall glaubt dieser, dass Violetta ihn nicht mehr liebe.
Im Schlussakt löst sich die Geschichte auf. Alfredo erfährt, wieso Violetta ihn verlassen hat, und verzeiht ihr. Sie planen ihre gemeinsame Zukunft. Doch Violetta geht es zunehmend schlechter, bis sie schliesslich stirbt. Heusinger bringt die Handlung auf den Punkt: «Die Hure ist am Schluss tot, aber die grosse romantische Liebe lebt weiter.»
Liebe als Illusion
Bei aller Achtung vor der schauspielerischen Leistung Chevaliers, erscheint einem die Aufführung eher als Leidensweg einer kranken Frau denn als romantische Liebesvorstellung. Umherschwankend und mit glasigem Blick verzehrt sie sich nach der Liebe, die sie nicht bekommt. Schwingt hier eine Kritik an der Gesellschaft mit? Wie Heusinger erzählt, liegt die heutige Vorstellung der einen grossen Liebe fern von der Realität.
Die Reduktion der Geschichte auf eine einzige Bühnendarstellerin funktioniert erstaunlich gut.
Die Liebe wird zur Illusion. Damit spielt die Inszenierung. Alfredo erscheint nie auf der Bildfläche – man hört nur seine Stimme. Dadurch wird er gleichsam zu einer Projektionsfläche für die eigenen Ideen und Wünsche. Um diese ideale Liebe nicht zu gefährden, muss man, wie Violetta, alleine bleiben. Ansonsten besteht die Gefahr, die Illusion zu zerstören.
Wer ist Violetta? Die Reduktion der Geschichte auf eine einzige Bühnendarstellerin funktioniert erstaunlich gut. Man kann der Story folgen, vorausgesetzt, man hat ein bisschen Ahnung von der Handlung. Die Darsteller der weiteren Figuren und des Chors (Festgesellschaft) befinden sich in den ersten und zweiten Zuschauerrängen. In der Dunkelheit erklingen sie wie Stimmen aus dem Off. Es gelingt ihnen nur durch ihren Gesang, die Handlung voranzutreiben.
Chevaliers Stimme, ihre Variation und ihr Ausdruck sind phänomenal – von rein und zuckersüss bis ohrenbetäubend laut hat sie alles drauf. Zudem verändert Violetta im Laufe der Aufführung ihr Äusseres. Mit Jogginghosen beginnend, zieht sie sich immer wieder um – mal trägt sie einen Petticoat, mal eine Perücke und zwischendurch nur Unterwäsche. Durch ihre Wandelbarkeit, bleibt sie dem Zuschauer ein Rätsel. Es wird nie ganz klar, wer diese Figur eigentlich ist.
Nicht nur der Protagonistin wird einiges abverlangt, auch das Publikum wird gefordert. Fast zweieinhalb Stunden ein und derselben Person zuzusehen, wie sie zu Grunde geht, kann verstörend und anstrengend sein. Man spürt das Martyrium dieser Frau am eigenen Leib und fühlt sich nach der Vorstellung wie gerädert. Die überaus schöne Musik des hervorragenden Orchesters geht dabei fast ein bisschen unter. Nichtsdestotrotz feiert das theateraffine Premierenpublikum die Inszenierung mit tosendem Applaus und vielen Bravorufen.