Sigfried Schibli, Basler Zeitung (02.05.2017)
Die Oper «Satyagraha» von Philip Glass in Schweizer Erstaufführung am Theater Basel
Choreografen lieben die Musik des 1937 in Baltimore geborenen Komponisten Philip Glass. Vielleicht, weil dessen «minimalistische» Klänge in ihrer flächigen, einlullenden, im Ausdruck neutralen Art vieles an Bewegungen auf der Bühne zulassen und nichts zwingend vorschreiben. Nicht nur die rund zehn Werke von Glass, die als Ballettmusiken konzipiert sind, auch seine sonstigen Instrumentalwerke tauchen öfter an Ballettabenden auf. Am Theater Basel hat man jetzt einem Choreografen, dem in Antwerpen fest engagierten Flamen mit marokkanischen Wurzeln Sidi Larbi Cherkaoui, eine ganze Glass-Oper anvertraut: «Satyagraha», eine Hommage an die südafrikanische Zeit des indischen Sozialreformers und Friedensaktivisten Mahatma Gandhi, die 1980 in Rotterdam uraufgeführt wurde.
Cherkaoui, der seine Tänzertruppe Eastman nach Basel mitgebracht hat, versucht gar nicht erst, den ruhigen Puls der Musik von Glass mit ihren stereotypen melodischen Mustern tänzerisch nachzuahmen. Statt auf Verdoppelung setzt er auf Kontrapunkt und sucht starke Bewegungsbilder, die sich sofort einprägen. Zu Beginn windet und krümmt sich ein Tänzer auf der an Stahlseilen aufgehängten Spielfläche, ein zweiter, ein dritter kommt dazu, bis sich neun Männerkörper in den Boden zu schrauben scheinen. Die Szene zeigt den Kampf blutig geschlagener Krieger, umringt von Menschen, die dem Geschehen teilnahmslos zusehen – bis auf Gandhi, der Frieden zu stiften versucht. Ihm zur Seite stehen die mythischen Gestalten Krishna und Arjuni.
Spielball der Interessen
Im zweiten Bild («Auf der Tolstoi-Farm») leben der friedfertige Gandhi und seine Anhänger auf dem von seinem wohlhabenden Weggefährten Kallenbach gestifteten Grundstück ihre Form der praktischen Utopie. Die leere Bühne wird möbliert, was man wohl als Sinnbild für die Zivilisierung verstehen darf. Doch ungetrübt ist die Idylle nicht: Die in Südafrika lebenden Inder lehnen sich gegen eine Gesetzesnovelle auf, was der Choreograf in einen kollektiven Schüttelfrost mit Breakdance-Elementen übersetzt. Gandhi selbst wird verhöhnt und zum Spielball der Interessengruppen, buchstäblich hin- und hergeworfen wie ein Ball.
Seine Gründung einer Zeitung zur Aufklärung der indischen Minderheit in Südafrika wird von Cherkaoui und seiner virtuosen multikulturellen Truppe als Rotation von Schrifttafeln gezeigt, eine Druckmaschine in Menschengestalt. Das hat wie vieles in der Inszenierung grafische Qualität. Die Registrierungspflicht der indischen Minderheit rief in Südafrika massenhafte Proteste hervor, deren Anführer Gandhi selbst war. In der Basler Inszenierung sehen wir, wie Gandhi an alle Ausweise verteilt, die sie dann in einem gemeinsamen Verbrennungsakt zerstören. Die Musik nimmt dazu das ruhige Quartenthema aus dem Anfangsteil auf, sie bleibt betrachtend, auch wenn die Handlung an Dramatik kaum zu übertreffen ist.
Der dritte Akt – jetzt singt der Chor aus dem Orchestergraben – erzählt vom «Marsch auf Newcastle» der Minenarbeiter im Jahr 1913, den mutige Frauen angezettelt haben. Sie bereiten, rituell schreitend, den Boden für den Arbeiterführer Gandhi, dessen pazifistische Predigt von einem schonungslos seinen Körper über die Spielfläche wälzenden und immer wieder brutal aufschlagenden Tänzer begleitet wird. Auch hier: Kontrast, nicht Verdoppelung der Musik durch den Tanz.
Die Bodenplatte kippt in die Schräge, hebt sich (Bühne: Henrik Ahr) und lässt die Minenarbeiter im Untergrund wie Untote wuselnd sichtbar werden, bis sich der Boden senkt und einen Arbeiter erdrückt. Wie die elf Akteure von Eastman danach aus der Vereinzelung zu einer Linie finden und gleichwohl ihre Individualität wahren, zeigt die choreografische Klasse, die Sidi Larbi Cherkaoui auszeichnet. Danach wird die Musik gelöster, fliessender, entfaltet ihre Sogkraft. Der Schluss dieser Ballettoper gehört wieder Gandhi, der zu einem verklärten Gebet an den Schöpfergott anhebt.
Qualität durch Zurückhaltung
Der Tenor Rolf Romei, der sich tatsächlich von seinem Haupthaar getrennt hat und in seinem weissen Gewand ein bisschen einem Papst ohne Kirche ähnelt, ist gestikulierend und singend der unbestrittene Star der Aufführung – obwohl das Stück, eigentlich keine Stars zulässt. Romei führt seinen facettenreichen lyrischen Tenor in jeder Körperlage ohne Forcieren durch alle Höhen und Tiefen der Glass’schen Partitur, wobei er klugerweise betont instrumental singt und darauf verzichtet, seinen Part mit individuellem Ausdruck zu versehen. An seiner Seite sind die Männerstimmen von Nicholas Crawley (Krishna), Karl-Heinz Brandt (Arjuna) und der Wandervogel und Mäzen Kallenbach von Andrew Murphy zu hören.
Von grösserer Bedeutung sind die weiblichen Partien der mit Pause dreistündigen Oper. Gandhis Sekretärin «Miss Schlesen» wird mit herrlich höhenintensivem, hellem Sopran verkörpert von Cathrin Lange; Gandhis Gattin Kasturbai ist bei Maren Favela in jeder Hinsicht gut aufgehoben. Anna Rajah ist die Inderin Mrs. Naidoo und als Retterin Gandhis Mrs. Alexander agiert überzeugend Sofia Pavone vom Opernstudio.
Das Sinfonieorchester Basel erfüllt seine Aufgaben unter Dirigent Jonathan Stockhammer bravourös – gerade, weil es nicht mit brillanten Soli glänzen kann und sich äusserste Zurückhaltung in der Tongebung auferlegen muss (Blechblasinstrumente sind ausgespart). Man muss die Musiker loben, dass sie so diszipliniert und schön und ohne jeden Profilierungsdrang spielen, ebenso wie der von Henryk Polus geleitete Theaterchor tadellos als singendes und spielendes Kollektiv funktioniert. Am Ende des langen, bewegten und bewegenden Premierenabends viel Beifall, vor allem für die neun männlichen und zwei weiblichen Gasttänzer von Cherkaouis formidablem Eastman-Ensemble.