Powerpsychokrimi

Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (09.05.2017)

Der feurige Engel, 07.05.2017, Zürich

Was für ein Abend! Das Opernhaus Zürich stemmt mit Prokofjews «Feurigem Engel» einen atemlos spannenden, unglaublich kraftvollen Musiktheaterabend.

Es ist dunkel im Opernhaus Zürich, kein Dirigentenauftrittsapplaus. Dann ein funzliges Fahrradlicht, altmodisch vom Dynamo am Hinterrad angetrieben. Renata hat ihr Rad umgedreht und tritt mit den Händen die Pedale. Was treibt sie? Warum wirkt sie so verstört? Eigentlich müsste Sergej Prokofjews Oper «Der Feurige Engel», geschrieben in den 1920ern, «Renata» heissen, so zentral ist die Hauptpartie. Ihr ist als Kind Madiel, der feurige Engel, erschienen und bestimmt fortan ihr Leben. Was passierte, bleibt das zentrale Rätsel: Wahn? Missbrauch? Einbildung? Und warum verfällt ihr Ruprecht so rasch, obwohl er doch erst nur das leichte Opfer sah in ihr?

In der Zürcher Inszenierung von Calixto Bieito passiert das irgendwo in den 1970ern, so braunschattiert und bieder gemustert sind Ingo Krüglers Kostüme. Rebecca Ringst hat ein mehrstöckiges, drehbares Labyrinth aus Metall, Treppen, Leitern und hölzernen Zellen gebaut. Immer hört da jemand zu, immer filmt eine Kamera aus unerwartetem Winkel. Und vor allem geistert hier auch immer wieder der stumme Graf Heinrich (Ernst Alisch) herum, in dem Renata Madiel wiederzuerkennen glaubt.

Umkreist wird nicht nur der vermutete Missbrauch

Der «gute Onkel» auf dem Plüschtierkinderbett, in dem Renata Heinrich erkennt, legt die Fährte einer Missbrauchsgeschichte. Klugerweise legt sich die Inszenierung aber nicht weiter fest, sondern umkreist psychologisch das Rätselhafte, das den Kern des Stückes ausmacht, ihrerseits wie getrieben und mit enormer Kraft. Das ist szenisch heftig, aber ungemein fesselnd.

Ausrine Stundyte, die in St.Gallen die Hauptrolle der Festspiel-Oper «Loreley» singen wird, wirft sich mit Haut und Haaren hinein – so körperlich agieren Opernsänger höchst selten. Sie klettert und singt fünf Meter über dem Bühnenboden an der ungesicherten Kante, wirft sich an Wände und Männer, als gelte es tatsächlich ihr Leben. Dazu singt sie, als wäre es das Normalste der Welt.

Scheinbar mühelos und ohne grosses Vibrato kommt sie über die dicksten und aggressivsten Orchesterwellen und auch zurück ins Leisere und gestaltet dabei so, dass man ihr jedes Wort abnimmt. Das ist der einzige Punkt, in dem ihr Leigh Melrose in der Rolle des Ruprecht etwas nachsteht (und darin, dass seine Partie weniger dankbar ist). Stundyte und Melrose gestalten die Beziehung der beiden mit Schauspielintensität: Blicke und kleine Gesten, ein Spiel von Anziehung und Abstossung, von Erotik und Macht läuft ab – heftig, aber nie plakativ. Das ist eine grosse Stärke der Personenführung Bieitos, die genau und zusammen mit der heftig vorwärtstreibenden Musik Prokofjews eine grosse Suggestivkraft entwickelt.

Gianandrea Noseda dirigiert die Philharmonia Zürich und lässt es ordentlich krachen. Wo die Musik motorisch vorwärtsdrängt, gibt ihr Noseda enormen Zug, er geht dabei manchmal an die Grenzen dessen, was der Raum noch zulässt – geht wie das Stück und die Inszenierung an die Schmerzgrenze. Der Horror Renatas wird auch hörbar. Überhaupt funktioniert dieser Abend darum so hervorragend, weil sich kein Keil zwischen Szene und Musik treiben lässt – wie es immer sein sollte und wie es immer die packendsten Resultate ergibt. Erst atemlose Stille, dann Jubel.