Sigfried Schibli, Basler Zeitung (09.05.2017)
Prokofjews Oper «Der feurige Engel» am Opernhaus Zürich, vom Mittelalter in die Gegenwart verpflanzt
Den Opern des russischen Komponisten Sergej Prokofjew (1891–1953) war bisher auf den westeuropäischen Bühnen wenig Fortune beschieden. Ausser «Die Liebe zu den drei Orangen» finden sich nur selten Prokofjew-Werke auf unseren Opernspielplänen. Man sah daher mit Spannung der Zürcher Premiere von Prokofjews Oper «Der feurige Engel», die erst zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten erstmals aufgeführt worden war, entgegen.
Die Produktion mit dem italienischen Dirigenten Gianandrea Noseda und dem katalanischen Regisseur Calixto Bieito bewies nun schlagend die Bühnentauglichkeit dieses mit zwei Stunden Spieldauer angenehm kompakten Stücks. Noseda spielt mit dem Philharmonia-Orchester den vollen Sound der Partitur aus und versucht gar nicht erst, «sängerfreundlich» zu begleiten. Dass die Singstimmen dadurch bisweilen in Bedrängnis geraten, ist in Kauf zu nehmen. Das Orchester im ohnehin kleinen Zürcher Opernhaus klingt farbig und grell, die oft kurzatmige, mit Tritonus-Intervallen gespickte Musik des Antiromantikers Prokofjew entfaltet ihre ganze Kraft.
Russische Originalsprache
Eine erstklassige Sängercrew garantiert vokale Authentizität auf der Bühne. Nicht wenige der Solisten stammen aus Osteuropa und haben mit der russischen Originalsprache keine Mühe. Das gilt allen voran für die Darstellerin der weiblichen Hauptpartie, die Litauerin Ausrine Stundyte. Sie singt die Renata, eine junge Frau, die sich von Dämonen und gespenstischen Visionen verfolgt fühlt, von der Gesellschaft als Besessene geächtet wird, der Inquisition in die Hände fällt und von Frauen grausam hingerichtet wird.
Ausrine Stundyte singt diese Riesenpartie ohne hörbare Anstrengung, und auch wenn ihre Stimme in der Tiefe wenig Substanz hat, ist sie doch eine höchst beeindruckende Darstellerin. An ihrer Seite singt – stimmlich noch überzeugender – der Brite Leigh Melrose mit kräftigem Bariton den Ritter Ruprecht, dem in dieser aktualisierenden Inszenierung keinerlei mittelalterliche Ritter-Eigenschaften anhaften. Unter den zahlreichen weiteren Darstellern seien der vorzügliche russische Tenor Dimitry Golovnin als Mephistopheles (man wird ihm im März 2018 am Theater Basel in Prokofjews Dostojewski-Oper «Der Spieler» wieder begegnen), die Mezzosopranistin Agnieszka Rehlis als Wahrsagerin und Pavel Daniluk als dröhnender Inquisitor hervorgehoben.
Triumph der Technik
Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst, derzeit eine der angesagtesten Architektinnen der Opernbühne, hat für die Zürcher Inszenierung eine Einheitsbühne geschaffen, die ein ganzes dreistöckiges Haus zeigt. Es dreht sich häufig und zeigt dadurch immer neue Ansichten. Da diese gewaltige Konstruktion fast die ganze Bühne einnimmt, bleibt für die eigentliche Inszenierung nur ein schmaler Streifen davor – und den nutzt Calixto Bieito für seine wie immer explizite Personenführung.
Renata ist eine äusserlich betont normale junge Frau von heute mit Kurzhaarschnitt, die ihrem Fahrrad dämonische Qualitäten zuschreibt. Der Mann an ihrer Seite, der ihr sexuell hörige Ruprecht, den sie sogar zu einem Mordversuch anstiftet, mutiert vom forschen Draufgänger zum zerknirschten Verlierer. Für Bieito typisch sind Einfälle wie der Faust, der sich unentwegt katholisch bekreuzigt, eine Kotzorgie von Renata und die Entkleidungsszenen, die von der Hauptdarstellerin einigen Mut zur Selbstentblössung erfordern.
Dass sich Renata in ein Kloster zurückzieht und dort von der Äbtissin drangsaliert wird, ist nur schwach angedeutet, und der Inquisitor ist nicht als kirchliche Figur gezeichnet. Es scheint, Bieito habe selber genug von der gängigen Kirchenschelte. Dafür hat er eine stumme Figur eingebaut, in welcher man einen möglichen früheren Vergewaltiger der traumatisierten oder geisteskranken Renata sehen kann. Auch wenn die Produktion mehr Fragen aufwirft als beantwortet – Was sind Dämonen heute? Worin liegt der Ursprung des Bösen? Ist der Teufel real oder nur eine Vorstellung? –, ist «Der feurige Engel» sehens- und vor allem hörenswert.