Sie zieht alle in ihren Wahn

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (09.05.2017)

Der feurige Engel, 07.05.2017, Zürich

Sergej Prokofjews Oper «Der feurige Engel» wird erstmals im Zürcher Opernhaus aufgeführt. So seltsam das Stück ist: Regisseur Calixto Bieito und Sängerin Ausrine Stundyte machen es zum Ereignis.

Wie es sich wohl anfühlt, wenn man Ohren und Seele zwei Stunden lang unter einen Presslufthammer legt? Nach der Aufführung von Sergej Prokofjews Oper «Der feurige Engel» meint man, eine Ahnung davon zu haben. Das Orchester kreischt und bohrt und hämmert an diesem Abend, die Sänger schreien, die Bühne dreht sich, bis einem schwindlig wird – und genau so muss es sein.

Auch das Premierenpublikum war dieser Meinung. Einhelliger Jubel schlug allen Beteiligten entgegen, sogar dem Regisseur Calixto Bieito, was keineswegs selbstverständlich ist. Man erinnert sich: Als Andreas Homoki die Leitung des Opernhauses übernahm, war eine der bangsten Fragen der Skeptiker jene, ob er «diesen Bieito» mitbringen würde – diesen Kultregisseur, der gern Hektoliter von Theaterblut verspritzt und der Gewalt keineswegs nur in sublimierter Form zeigt. Jetzt hat «dieser Bieito» zum zweiten Mal in Zürich inszeniert und zum zweiten Mal ein Stück, in dem es – obwohl er das Blut mittlerweile nur noch tröpfchenweise dosiert – sehr handfest um Gewalt geht.

Das erste Mal hatte er sich mit Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts vorgenommen. Nun, mit Prokofjews «Der feurige Engel», hat er eines jener verlorenen Stücke auf die Bühne gebracht, die von Zeit zu Zeit ausgegraben werden, es aber nie ins Kernrepertoire schaffen. Schon mit der Uraufführung des in den 1920er-Jahren komponierten und später mehrfach umgearbeiteten Werks hat es lange nicht geklappt; sie fand erst 1955 statt, zwei Jahre nach Prokofjews Tod. Die aktuelle Zürcher Produktion dürfte die Schweizer Erstaufführung sein.

Geh weg! Rühr mich nicht an!

Dabei wäre das Thema des Stücks eigentlich durch und durch operngemäss: Es geht um eine traumatisierte Frau, um Missbrauch, um Wahnsinn. Aber es ist nicht jener kristalline Wahnsinn, der bei den Donizetti- oder Bellini-Heldinnen so überaus attraktive Arien auslöst. Renata, die Protagonistin in «Der feurige Engel», kann schon zu Beginn des Abends nur noch stammeln. In atemlosem Stakkato wiederholt sie (ohne sichtbares Gegenüber) immer wieder dieselben Worte: Geh weg! Rühr mich nicht an! Erbarmen!

Das ist der Anfang einer geradezu monströs anspruchsvollen Partie – und der Anfang eines atemberaubenden Auftritts der litauischen Sopranistin Ausrine Stundyte. Sie vermittelt die Geschichte der Renata, als sei es ihre eigene: Von einem feurigen Engel handelt sie, der ihr als Kind erschien und sie später verliess, als sie ihn um Sex bat. Und vom Grafen Heinrich, in dem sie den Engel später wiederzuerkennen meinte – aber auch er verliess sie. Seither sucht sie ihn, verzweifelt, verstört, verhärtet – und zieht dabei alle und alles in ihre Fantasien hinein.

Ruprecht vor allem, der sich in Renata verliebt, obwohl sie ihn immer wieder zurückstösst, der ihr folgt durch alle emotionalen Kehrtwenden und Widersprüche. Er soll Heinrich töten? Also fordert er ihn zum Duell. Er darf ihm auf keinen Fall etwas antun? Also lässt er sich selbst verletzen. Wie Leigh Melrose diesen Ruprecht zeigt, wie er seinen zunächst ruhigen (und tatsächlich fast beruhigenden) Bariton immer mehr aus der Balance geraten lässt: Das ist nicht zuletzt eine psychologische Meisterleistung.

Auch die von Rebecca Ringst entworfene Bühne ist das. Viele Kuben sind da über- und ineinandergeschachtelt, helles Holz, dunkles Metall. In einem Kinderzimmer sitzt ein älterer Herr. In einem anderen Raum wartet ein Gynäkologe. Figuren treten auf und verschwinden wieder, es wird grellhell und stockfinster, Videobilder flackern, alles dreht sich: Man meint, in Renatas Kopf hineinsehen zu können. Es sind ihre Erinnerungen, die diese Räume besetzen, ihre Gespenster, die sie nicht loswird. Ein feuriger Engel ist nicht dabei, auch Heinrich gibt es vielleicht gar nicht. Vielleicht sind sie auch beide jener ältere Herr im Kinderzimmer: Man weiss es nicht, es ist auch nicht wichtig.

Vokale Hysterie

Man weiss genug, wenn man hinsieht – und hinhört. Unter der Leitung von Gianandrea Noseda reizen die hoch motivierten Musikerinnen und Musiker der Philharmonia Zürich die Extreme von Prokofjews Partitur aus: die kreisenden Motive, die peitschenden Rhythmen, die dämonischen Schläge, die wilden Polyfonien. Es ist eine streng durchgestaltete Partitur, die Klangexzesse sind das Resultat einer eigenen, unwiderstehlichen Logik. Auch sie spiegeln, was in Renatas Seele vorgeht; dass dies die Sänger auf der Bühne und zuweilen auch die Ohren des Publikums überfordert, ist gewollt.

Eine solche Intensität lässt sich kaum abendfüllend halten; ab dem vierten der fünf pausenlos gespielten Akte franst das Stück und damit auch die Aufführung ein wenig aus. Konzentrierte sich zuvor alles auf Renata und Ruprecht, löst sich der Rahmen nun auf – und mit ihm das Bühnenbild: Ruprecht hat sich der schwarzen Magie verschrieben, der Arzt (Dmitry Golovnin) verwandelt sich in Mephistopheles, auch Faust tritt auf, und Renata will ins Kloster. Dort gibt es einen Inquisitor (Pavel Daniluk), der ihr mit brachialem Bass den Teufel austreiben will – und einen Chor, der sie mit ebenfalls beträchtlicher vokaler Gewalt und Hysterie als Heilige verehrt.

Bieito zeigt auch diese Szenen strikt zeitgenössisch, bis hin zu den zwei echten Dobermännern in der Stube des Inquisitors: Das Programmheft weist darauf hin, dass Exorzismus keineswegs nur ein mittelalterliches Phänomen sei, sondern mit rund 1300 offiziell bestätigten Fällen im Jahr auch ein Phänomen der gegenwärtigen Schweiz. Aber das ändert nichts daran, dass der psychologische Fokus hier verloren geht.

Die Wucht allerdings, die bleibt. Dem Chor, der sich gekonnt und stimmgewaltig in Ekstase singt, würde man am liebsten den Stecker herausziehen. Nach dem letzten Ton ist man erschöpft, erschüttert, tief beeindruckt – und froh darüber, dass man endlich Ruhe hat. Renata wird sie nie finden.