Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (26.09.2017)
«Jewgeni Onegin» von Tschaikowski spielt im Opernhaus Zürich fast ganz im Freien. Die Regie verzichtet auf Bilderbuchrussland und fokussiert überzeugend aufs Innenleben. Die Musik vereint beides.
Konfitüre und sichtbare Bühnenarbeiter, Opernposen und Verfremdung: Barrie Koskys Inszenierung von Pjotr Tschaikowskis «Jewgeni Onegin» verbindet Realismus und Innenperspektive. Sehr realistisch kochen in der ersten Szene die beiden Alten Konfitüre auf einer baumumstandenen Wiese, wenn die zwei Töchter aus dem Wald kommen: Die quirlige Olga (von Ksenia Dudnikova würde man gerne mehr hören) und die hinter einem dicken Buch versteckte Tatjana.
Die Erste hat schon etwas mit dem Dichter Lenski, die zweite verliebt sich sofort in dessen Freund Jewgeni Onegin, was in Tschaikowskis Oper nach Puschkins Versroman die grosse Gefühlslawine auslöst. Peter Mattei, Onegin auf allen grossen Bühnen, spielt und singt ihn überragend als Aussenseiter, der seine Rolle in dieser scheinbar landidyllischen Gesellschaft noch nicht gefunden hat.
Verzweifelt besoffener Weltschmerz
Onegin weisst Tatjanas Liebesgeständnis arrogant zurück. Dabei hat sie in der berühmten, langen Briefszene mit sich gerungen dafür. Hier ist nicht nur Olga Bezsmertna mit ihrem herb timbrierten Sopran ganz bei sich, sondern auch die Regie hat ihre stärksten Momente, wenn es um das Innenleben der Figuren geht. Die weite Wiese, die Rebecca Ringst auf die Bühne mehr legte als stellte, bietet zwar die Möglichkeit rascher Auf- und Abtritte des (ziemlich lauten) Chores und toller Bilder, wie der einsamen Tatjana mit ihrer Torte am Namenstagsfest. Aber überzeugender ist die detaillierte, genaue Personenführung. So wird die Arie Lenskis, in der er seinen Tod im Duell mit Onegin ahnt, nicht zum tenoralen Wunschkonzert-Hit, sondern Pavol Breslik gestaltet eine verzweifelt besoffene Weltschmerzszene.
Farblich differenziert, öfter mit breitem Pinsel
Für die Briefszene wird die Bühne bis auf einen scharfen Lichtkegel dunkel – nichts mehr von Realismus. Die scheue Tatjana schusselt mit ihrem Blättern, ringt mit sich, dem Stift und Formulierungen. Bei der entscheidenden Stelle wird sie ganz leise, die Regie schiebt sie so aus dem Licht, dass nur noch ihr Rücken und die unruhigen Hände zu sehen sind: Eine nervöse Studie, die mit dem etwas exaltierten Realismus des Beginns und der Chorszenen wenig mehr gemein hat. Dieses Heraustreten aus der Handlung nutzt Barrie Kosky, wie das leitmotivische Konfitüreglas, den Fokus aufs Gefühlsleben zu verschieben und dieses nicht nur der Musik zu überlassen. Vor der Philharmonia Zürich steht mit Stanislav Kochanovsky ein junger Dirigent, der klar hörbar die russische Tradition weiterführt. Er tut das vor allem farblich differenziert, öfter auch mit breitem Pinsel für mächtige, nicht immer ganz präzise Aufschwünge; er überrascht dann aber auch immer wieder mit Ruhepunkten, überraschenden Rhythmisierungen und Zurücknahme.
Im grossen Schlussduett zwischen Tatjana und Onegin, in dem die Rollen von Liebendem und Zurückweisender umgekehrt sind, nimmt die Regie die erste gemeinsame Szene wieder auf. Die Gesten fallen im nun prasselnden Regen gar gross aus. Vielleicht mit Absicht.