Sigfried Schibli, Basler Zeitung (26.09.2017)
Tschaikowskis «Jewgeni Onegin» eröffnet die Spielzeit des Zürcher Opernhauses
Auch Opernregisseure sind nur Menschen. Sie verrichten gern eine Arbeit einmal und profitieren dann zweimal davon. Im Theaterbetrieb spricht man in solchen Fällen von einer «Koproduktion» zwischen zwei Häusern, wie sie jetzt mit der Komischen Oper Berlin und dem Opernhaus Zürich stattfand. In Berlin hatte die Inszenierung der Tschaikowski-Oper «Jewgeni Onegin» von Chefregisseur und Intendant Barrie Kosky Ende Januar 2016 Premiere. Die Premiere am Koproduktionsstandort Zürich folgte am Sonntag, anderthalb Jahre später. Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme sind identisch; Sänger, Orchester, Chor und Dirigent sind andere. Da die Berliner Produktion dank Streaming ein halbes Jahr lang kostenlos im Internet zu sehen war (BaZ vom 2. Februar 2016), haben viele Operninteressierte sie gesehen, ohne nach Berlin gereist zu sein. Doch die Produktion begeistert auch beim zweiten Sehen. Barrie Kosky, der im Sommer mit Wagners «Meistersingern von Nürnberg» in Bayreuth die Festspiel-Inszenierung des Jahres vorgelegt hat (BaZ vom 27. Juli), fesselt auch hier Auge, Herz und Hirn durch Bilder von starker Kraft und emotionaler Tiefe. Das Stück spielt in einer Waldlichtung. Hier gehen die älteren Frauen ihrer Arbeit nach und füllen Einmachgläser mit Früchten. Die Töchter, die introvertierte Tatjana und ihre lebenslustige Schwester Olga, springen wie junge Zicklein über die Wiese, welche die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst auf die von Laubbäumen gesäumte Drehbühne gepflanzt hat.
Da wächst kein Gras drüber
Als Onegin und sein Freund Lenski auftauchen, kommt es zu einem Weckglaswerfen, an dem sich Tatjana nicht beteiligt. Die ständige Romanlektüre hat sie asozial gemacht, aber nicht emotional abgestumpft. Fast widerwillig verliebt sie sich in Onegin. Dieser wirft ihr, unfähig zur Liebe, rüde ein Früchteglas in den Schoss. Dabei hätte sie es lieber gesehen, wenn er sich selbst in ihren Schoss gelegt hätte! Aber dazu ist der stolze Onegin, der im Duell seinen Freund Lenski töten wird, erst bereit, als Tatjana mit dem Fürsten Gremin verheiratet ist, und dann ist es für alles zu spät. Wir sind im dritten Akt der «Lyrischen Szenen» (Tschaikowski mied das Wort Oper), und immer noch wächst Gras auf der Bühne. Während das Orchester noch die Polonaise spielt, öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick für eine klassizistische Kulisse im Petersburger Gremin-Palast frei. Sie wird später zum Erstaunen Onegins von Bediensteten des Fürsten Stück für Stück abgetragen, und was zum Vorschein kommt, ist nichts Anderes als die Waldlichtung, in welcher sich Tatjana und Jewgeni einst näher gekommen waren, ohne sich wirklich nahe zu kommen. Ein verblüffendes Bild dafür, dass manche Entscheidungen unwiderruflich sind, dass man nie zweimal in denselben Fluss steigt, auch wenn die äusseren Umstände das suggerieren. Und dafür, dass über zentrale Ereignisse im Leben nie Gras wächst. Die Zürcher Produktion punktet mit einer intelligenten Inszenierung und mit einer exzellenten Besetzung. Der Petersburger Dirigent Stanislav Kochanovsky feuert das PhilharmoniaOrchester zu glühend sinnlichem Spiel an (Sonderlob für die Soloklarinette!). In der Titelpartie erlebt man mit Peter Mattei einen sängerisch und schauspielerisch souveränen Onegin-Bariton – ergreifend, wie der baumlange Mann im dritten Akt sein Spiegelbild anspuckt und auf allen Vieren der Frau nachläuft, die er einst schnöde abwies. Diese wird von der Ukrainerin Olga Beszmertna mit diszipliniert geführtem, konditionsstarkem Sopran gesungen, der nie flattert und in der Höhe über ein zartes Piano verfügt. In der Briefszene zeigt diese Darstellerin, was es heisst, vor lauter Verliebtheit wie krank zu sein: Da ist ein Zittern und Beben, das förmlich zur körperlichen Zerreissprobe führt. Kaum weniger glücklich besetzt sind die Partien der auch sängerisch agilen Olga (Ksenia Dudnikova), ihres Partners Lenski (Pavol Breslik mit hellem Strahltenor), der Mutter Larina (Liliana Nikiteanu) und des Fürsten Gremin (Christoph Fischesser). Den durchschlagskräftigen Chor leitet Ernst Raffelsberger.