Totentanz ums goldene Kalb

Jürg Huber, Neue Zürcher Zeitung (07.11.2017)

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 05.11.2017, Zürich

«Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny», mit dem Brecht und Weill noch 1930 für einen handfesten Theaterskandal sorgten, wird in Zürich zur kulinarischen Oper. Ist das höhere Dialektik?

«Auf nach Mahagonny!» Der Werbespruch für Bertolt Brechts fiktive Glücksucher-Stadt entspricht einem langgehegten Wunsch von Zürichs Generalmusikdirektor Fabio Luisi. Nun ist «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny», Kurt Weills Oper auf das Libretto von Brecht, also im Opernhaus Zürich angekommen. Der Auftakt der Neuproduktion ist vielversprechend: Wie präzise die Videoprojektionen von Chris Kondek mit der Einleitungsmusik synchronisiert sind, macht Freude; wie der Regisseur Sebastian Baumgarten anschliessend die Filmbilder mit den live agierenden Personen überblendet, weckt Lust auf das Weitere.

Unter Luisis Stabführung erhält die Musik einen fiebrigen Zug nach vorn; die Vielschichtigkeit von Weills Partitur wird hörbar, wenn er zusammen mit der Philharmonia Zürich die atonalen Einsprengsel der Partitur nicht überspielt, sondern ernst nimmt. Annette Dasch gibt in ihrem fulminanten Rollendebüt der Jenny ein eigenes Gepräge. Wie sie in Sekundenbruchteilen von der Klischee-Kubanerin zur Jenny aus Oklahoma mutiert, ist genau gearbeitetes Theater. Und im Gegenschnitt wird augenfällig, dass der Alabama-Mond der Mädchen eben nicht jener der Holzfäller aus Alaska ist.

«Aber etwas fehlt»

Das Unbehagen, das Paul Ackermann, in der ersten Fassung der Oper Jim Mahoney, angesichts des verordneten Konsums und des reglementierten Genusses befällt, lässt sich auch im Parkett nicht ganz ausblenden. Zwar hält der Choreograf Kinsun Chan mit einer Tänzerschar das Geschehen auf der Bühne in der Lichtgestaltung von Elfried Roller in ständiger Bewegung; auch zeigt sich der von Janko Kastelic vorbereitete Chor agil und durchschlagskräftig. Spielfreudig und gut bei (Opern-)Stimme gibt sich nicht zuletzt das Ensemble mit Michael Laurenz als Prokurist Willy, Christopher Purves als Dreieinigkeitsmoses, Iain Milne als Jakob Schmidt, Cheyne Davidson als Sparbüchsenbill, Ruben Drole als Alaskawolfjoe und Jonathan Abernathy als Tobby Higgins. Gleichwohl gerät die anfänglich muntere Revue im weiteren Verlauf des ersten Aktes ins Stocken.

Der Philharmonia fehlt nun auch das Gespür und die Spritzigkeit, um die verschiedenen Zeit- und Stilschichten der Partitur zu schärfen. Da hat etwa die Referenzaufnahme aus den 1950er Jahren unter Wilhelm Brückner-Rüggeberg mit der Brecht-Muse Lotte Lenya als Jenny einen anderen Biss. Erstaunlich blass bleibt zudem Karita Mattila als Leokadja Begbick, die in ihrem rosafarbenen Dress und Cowboyhut zwar kess aussieht (und an eine ehemalige Botschaftersgattin gemahnt), aber als eigentlicher Kopf des Stadtgründertrios doch zu wenig Kontur gewinnt.

«Du darfst es!»

Was Paul Ackermann nach der Hurrikannacht als neues Gesetz von Mahagonny formuliert, ist natürlich auch Theatermaxime. So darf die Bühne etwas Cowboyromantik und typisch amerikanisches Milieu atmen – was gemäss Regieanweisung jedoch eigentlich vermieden werden sollte. Barbara Ehnes hat in Anlehnung an eine Seniorenresidenz einen putzigen Bungalow als Kulisse hingestellt; Joki Tewes und Jana Finderklee haben tief im Fundus gewühlt, viel Buntes gefunden und beispielsweise Dreieinigkeitsmoses eine Art rote Uniform mit aufgenähtem Kreuz verpasst.

Sebastian Baumgarten, der, sozialisiert in der DDR, als Brecht-Spezialist gilt, fokussiert auf das anarchische Potenzial des Glücksverlangens und lässt die Kritik an Verhältnissen mehr implizit mitschwingen als die in dieser Hinsicht explizite Uraufführung im politisch aufgeheizten Klima von 1930. Ein starker Moment ist die tänzelnde Gerichtsszene, die Christopher Purves mit wacher Präsenz nutzt, um das Profil des Dreieinigkeitsmoses als düsterer Zeremonienmeister zu schärfen.

«Wie man sich bettet, so liegt man. . .»

Die Maxime eines entfesselten Raubtierkapitalismus («. . . es deckt einen da keiner zu») wird zugleich zu einem kulinarischen Höhepunkt der Oper, wenn Annette Dasch Jennys grossen Monolog am Ende des zweiten Aktes hält. Und Christopher Ventris' prächtiger Wagner-Tenor macht den eindringlichen Nachtgesang des Paul Ackermann gleich zum nächsten. Darüber geht indes die beabsichtigte Brechung verloren, und es beginnt das konventionelle Opernspiel, worin sich die gefühlsmässige Identifikation mit der melodramatischen Liebesgeschichte von Paul und Jenny aufdrängt. Folgerichtig singen die beiden auch das Kranich-Duett, während der surreale Benares-Song, der die Dramaturgie unterläuft, gestrichen ist.

Als klassische Oper hat dies durchaus Stringenz. Doch wie vertrackt es ist mit «Mahagonny», wird gerade hier evident. Brechts und Weills Wege gingen nach dieser Produktion denn auch auseinander. Das Zürcher Opernhaus punktet, wo es um sein Kerngeschäft geht: im Spiel mit den Gefühlen und Illusionen. Dass hier auch politische Fragen verhandelt werden, gerät dadurch in den Hintergrund: dass es eben nicht nur die Glücks- und Genuss-Suche des Einzelnen ist, die ins Verderben führt, sondern auch die ungleiche Verteilung der (finanziellen) Ressourcen.

«Können einem toten Mann nicht helfen»

Wenn in der opulenten Schlussszene alle musikalischen Elemente nochmals zusammenkommen, bleibt diese Kehrreim im Gedächtnis haften. Dazu ein düsteres Totentanzbild, eine schwarze Messe um den Sarg von Paul Ackermann und um den Kopf des Kalbes, an dem sich Jakob Schmidt (Iain Milne) totgefressen hat. Die bei Brecht religiös konnotierte Szene gipfelt in einem Feuerzauber – in Schönheit wird die Welt also untergehen. Ist damit auch Brechts und Weills Dramenkonzeption gestorben? Hat das epische Theater ausgespielt? Ist «Mahagonny» bloss ein Wort, ein leeres Zeichen, das unsere Wünsche widerspiegelt? Oder ist die schöpferische Zerstörung Ausgangspunkt einer besseren Welt?

Die dialektische Ambivalenz, die dem Stück innewohnt, löst sich in der Zürcher Produktion auf im Genuss. Dass in dieser Stadt einst Opernhauskrawalle stattgefunden haben, die ebendie Verteilung des Geldes zum Anlass hatten, bleibt am Schluss nur angedeutet. Aug und Ohr kommen an diesem Abend auf ihre Rechnung. Die Lust am Kulinarischen geht jedoch einher mit dem Verlust an inhaltlicher Reflexion.