Anna Kardos, Aargauer Zeitung (07.11.2017)
Sebastian Baumgarten inszeniert «Mahagonny» als Rundumschlag mit Film, Tanz und vielen Fragezeichen.
Tschüss, Zivilisation. Wie Primaten stehen sie vor den Trümmern ihrer Gesellschaft. Auf zwei Beinen zwar, aber der affenähnlich vorgebeugte Oberkörper schwankt bedrohlich hin und her.
Mit einem ähnlichen Bild hatte alles begonnen. Der Abend im Opernhaus Zürich – und die Gründung der Stadt Mahagonny inmitten von Wüsten, Meeren und Goldgräber-Flüssen, irgendwo im Nirgendwo. Damals sind sie mit vornübergebeugtem Oberkörper, auf zwei Beinen herbeigewankt, in Fellen und gehörnten Wikingerkappen. Auf, nach Mahagonny! Auf, in diesen stadtgewordenen Lunapark für Erwachsene mit Unmengen an Whisky, Weiber- und Pferdefleisch.
Für ein paar Dollar mehr
Was wollten sie hier? Einen Gegenpol zur Mühsal des Lebens die einen (meist Männer). Ein paar Dollar mehr die anderen (meist Frauen), unter ihnen auch die Prostituierte «Jenny Hill from Oklahoma» und Paul Ackermann, der sieben Jahre in der Kälte Alaskas Bäume gefällt hat. Was anfangs wie eine Win-win-Situation wirkt, stellt sich mit fortschreitendem Aufenthalt im käuflichen Paradies als dröger und dröger, öder und öder heraus. Doch da steht schon die Katastrophe an, ein Hurrikan steuert auf Mahagonny zu. Es droht die totale Vernichtung.
Da schafft Paul Ackermann – vor uns die Sintflut – sämtliche Regeln ab. Ab sofort ist in Mahagonny nicht nur alles käuflich, sondern überdies alles erlaubt mit einer einzigen tödlichen Ausnahme: kein Geld zu haben. Man ahnt es bereits, die Sache wird nicht gut ausgehen. Denn, wo gekauft wird, da kommt am Schluss die Rechnung.
Das ist auch in der gemeinsamen Oper von Bertolt Brecht und Kurt Weill nicht anders. Schon im Jahr 1930 prangerten die beiden damit an, dass Geld die Welt regiere. Das Stück ist eine komödiantische Kulturkritik, eine gesellschaftliche Groteske mit 80%igem Moralgehalt. Das haut den stärksten Kerl um.
Regisseur Sebastian Baumgarten ist so ein starker Kerl des deutschen Theaters. Seinen «Inszenierungen» wurde schon mal die Technik einer «Abrissbirne» beschienen. Als Jugendlicher hatte er bei DDR-Regisseurin Ruth Berghaus hospitiert und sich mit dem Brecht-Begeisterungs-Virus angesteckt, der bis heute anhält: «Ich betreibe Theater aus einer klaren Haltung heraus und nicht nur aus Spielfreude», meinte er in einem Interview.
Auf der Bühne der Zürcher Oper präsentiert er beides, Haltung wie Spielfreude. Ersteres in Form von Überschriften, die als Fragezeichen schon von Brecht stammen könnten und im Raum stehen bleiben: «Alle wahrhaft Suchenden werden enttäuscht.» Letzteres in Form eines Spektakels, bei dem sämtliche Register gezogen werden. So geht ein Tanzensemble mit dem Orkan wortwörtlich die Wände hoch (Choreografie: Kinsun Chan), ein Schattentheater darf sprichwörtlich Gott spielen, es werden Filme (Chris Kondek) projiziert, die Sänger tanzen viel, Bäuche platzen (fast) naturalistisch und Kostümbildnerinnen Jana Findeklee und Joki Tewes dürfen sich so richtig austoben.
Man kann diese Ästhetik der Deutlichkeit (und des Trash) mögen oder nicht, sie ist sehr souverän gemacht. Und funktioniert im besten Fall wie ein Feuerwerk: Annette Dasch als Prostituierte Jenny Hill rockt Mahagonny beinahe im Alleingang. Der «Moon of Alabama» scheint mittels ihres schlanken Soprans noch heller, «Bedenken Sie, Herr Jakob Schmidt» wird zum Latin-Hit, und in «Wie man sich bettet» wispert die Sopranistin so zart, dass man sich plötzlich bewusst wird, wie klein und verletzlich der Mensch eigentlich ist.
Unsingbare Texte
Christopher Ventris als ihr Liebhaber Paul bleibt schauspielerisch jener Holzfäller, der er sieben Jahre lang in Alaska war. Nur in seiner Stimme scheint die unholzfällerische Regung namens «Gefühl» auf. Das ist umso beachtenswerter, als die Brecht’schen Phrasen alles andere als sanglich sind und Solisten wie Chor stimmlich Schwerarbeit leisten. Unter ihnen Puffmutter und Mahagonny-Chefin Begbick (alias Karita Mattila), die eine wunderbare Schönheit in ihre Melodien legt. Auch der junge Schweizer Bassbariton Ruben Drole schält aus den Konsonant-Hülsen der deutschen Sprache mit seiner Stimme alles Sangliche heraus.
Die Philharmonia Zürich unter Fabio Luisi handhabt die Musik von Weill ähnlich. Statt sie als Klimperei zu persiflieren, schaffen Orchester und Dirigent die verschiedenen Charaktere von Tango bis Jazz heraus. Sodass man als Zuhörerin nach dem Schlusston das Opernhaus mit einem Mix an Eindrücken verlässt: Im Ohr eine Handvoll griffige Melodien, im Kopf ein paar nicht ganz so griffige Fragezeichen.