Ein Opfer im Kampf der Kulturen

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (12.12.2017)

Madama Butterfly, 10.12.2017, Zürich

Am Opernhaus Zürich lässt Ted Huffman in Giacomo Puccinis «Madama Butterfly» die westliche und die östliche Welt entlarvend aufeinanderprallen – ein aufrüttelnder Abend.

So endet doch keine Oper! So endet eigentlich gar nichts. Ein Schlag in die Magengrube ist das, und bei guten Aufführungen wie dieser braucht man eine kleine Ewigkeit, um sich davon zu erholen. Der musikalische Showdown am Schluss von Giacomo Puccinis «Madama Butterfly» bleibt für alle Zeiten das radikalste Opernfinale, das je geschaffen wurde. Denn Puccini, der oft der Sentimentalität verdächtigte Grossmeister menschlicher Seelentragödien, verweigert hier nicht nur seinen Figuren auf der Bühne die gattungsübliche Erlösung, sondern auch uns, den Miterlebenden und Mitleidenden des Dramas.

Unbarmherzig schickt uns dieser grausame Komponist in die Nacht mit einem gellenden Schrei des Orchesters im Ohr, einem Klang, den Fachleute als spätes Echo des neapolitanischen Sextakkords aus der barocken Oper deuten. Dort wurde zu diesem Klang meist gestorben. Oder gemordet. Und nichts anderes, einen Tod, nein: einen Mord durch Unterlassung, zeigt uns der amerikanische Regisseur Ted Huffman in seiner beeindruckenden Neuinszenierung der «Madama Butterfly» am Opernhaus Zürich.

Chrysanthemenpoesie

Ausgangspunkt dieser völlig unaufgeregten, doch dadurch umso eindringlicheren Produktion ist der leere, weisse Raum. Der White Cube, von Kunstmuseen lange Zeit als neutraler Rahmen für die Hängung von Bildern propagiert, dient als szenischer Nullpunkt. Von hier aus erzählt Huffman anfangs wie in einem Zeitraffer erst die kulturhistorische Vorgeschichte dieser «Tragedia giapponese», bevor das eigentliche Drama der Geisha Ciò-Ciò-San seinen Lauf nimmt.

Wie einst der amerikanische Commodore Matthew Perry, der 1853 mit seinen schwarzen Schiffen in die Bucht von Edo fuhr und die Öffnung des streng isolierten Japan erzwang, okkupiert der Marineleutnant Benjamin Franklin Pinkerton sein neues Liebesnest auf einem Hügel bei Nagasaki kurzerhand mit seinen wuchtigen Möbeln im Kolonialstil (Bühne: Michael Levine). Die zarte Chrysanthemenpoesie der japanischen Kultur, man ahnt es, wird daneben keine Chance haben.

Gleichwohl denunziert oder karikiert Huffman weder die eine noch die andere Seite. Pinkerton ist bei ihm kein skrupelloser Sextourist, der sich im fernen, vermeintlich rückständigen Ausland mit einer Kurzzeitgeliebten die Erfüllung seiner Männerphantasien kauft. Der albanische Tenor Saimir Pirgu, trotz Rollendebüt am Premierenabend bereits sängerisch überragend, zeichnet den US-Offizier vielmehr als etwas schwärmerisch-unbedarften Yankee, dem die Affäre mit der kleinen Frau Schmetterling dermassen über den Kopf wächst, dass nach der smarten Offiziersfassade schliesslich sogar seine bürgerliche Existenz ins Wanken gerät.

Am Ende nämlich wird dieser reumütige Lover noch einmal auf die Bühne stürmen – eine der wenigen, aber gezielten Abweichungen Huffmans von den Vorgaben des Librettos. Ungeachtet seiner wartenden Frau, der blasierten Kate (Natalia Tanasii), will er die Geliebte in die Arme schliessen. Vielleicht zum Abschied, vielleicht für immer. Doch es ist zu spät: Vor seinen Augen setzt sich Butterfly das Messer an die Kehle und bricht tot vor ihm zusammen. Das ist drastisch, keine Frage, wirkt aber nicht einen Moment lang melodramatisch – erscheint es doch als der blutige Endpunkt einer konsequenten Rollenentwicklung, die Svetlana Aksenova bei ihrem Zürcher Einstand eindrucksvoll verkörpert.

Existenzieller Einsatz

Bereits mit ihrem harfenumrauschten ersten Auftritt «Spira sul mare» ist klar: Diese Frau spielt stets mit existenziellem Einsatz. Vielmehr: Sie «spielt» eben nicht; denn alles, nicht zuletzt die Liebe, ist ihr von heiligstem und, wenn es sein muss, tödlichem Ernst. Aksenova hält diese Unbedingtheit in Gefühlsausdruck und Körpersprache mit atemberaubender Intensität den ganzen Abend durch. Die brennende Expressivität geht zwangsläufig ein wenig zulasten der leiseren und delikaten Phrasen; aber im Gegenzug kennt ihr Rollenporträt keinerlei Koketterie. Entsprechend wirkt die – oft unfreiwillig komische – Stelle mit der Frage nach Ciò-Ciò-Sans Alter («quindici anni») hier geradezu erschütternd, zumal angesichts der derzeitigen Diskussionen um sexuellen Missbrauch.

Auch sonst vermeidet die Regie, trotz überwältigend schönen Kostümen (Entwürfe: Annemarie Woods) und immer wieder betörenden Lichtstimmungen (Franck Evin), jegliches Abgleiten in blossen Exotismus oder gar Kitsch, von dem Puccinis Werk mehr bedroht ist als die meisten anderen Evergreens des Opernrepertoires. Umso schärfer tritt der kulturelle Konflikt hervor: ein Zusammenprall von unvereinbaren Lebensmodellen, der unweigerlich Opfer fordert.

Dass ausgerechnet der westlichem Vernunftdenken verhaftete Konsul Sharpless, von Brian Mulligan ausdrucksvoll gesungen, zur tragischen Figur wird, weil er Butterfly mit ebendiesen Vermittlungsbemühungen tödlich in die Enge treibt, gehört zur bitteren, durchaus auch kulturkritischen Ironie des Stückes, die selten so deutlich herausgearbeitet wird.

Gefühlsverstärker

Am Pult der Philharmonia Zürich braucht Daniele Rustioni einige Zeit, bis die Musik die gleiche Präzision erreicht wie die Darstellung auf der Bühne. Nicht bei der Verve, aber in der Balance hapert es hörbar, und im durchweg sehr lauten ersten Akt zwingt der Dirigent die Sänger unnötig zum Forcieren. Im zweiten Teil harmonisiert sich der akustisch unausgewogene Gesamtklang etwas, vor allem aber findet Rustioni zu jener Dringlichkeit im Ton, die Puccinis Musik als ein Gefühlsverstärker wirken lässt – was namentlich den Schluss nahezu unerträglich macht.