Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (06.02.2018)
Der Neuinszenierung von Mozarts «Idomeneo» am Opernhaus Zürich fehlen die starken Bilder für ein klares Konzept. Die Musik tönt dagegen deutlich profilierter.
Vor 237 Jahren hat dieser Coup de Théâtre die Hörer gewiss bis ins Mark erschüttert: Knapp drei Stunden lang haben die Posaunen im Graben tapfer geschwiegen, doch jetzt dröhnen sie, als wolle sich die Erde auftun, und mit ihnen erdröhnt die Stimme des Orakels: «Ha vinto amor» – die Liebe hat gesiegt. Doch zu früh gefreut! In Zürich siegt die Liebe nicht. Bei der Neuproduktion von Mozarts «Idomeneo» am Opernhaus sortiert das Orakel nur kurz die Machtverhältnisse neu und verstummt. Keine Liebe, kein Jubel, kein Ausweg aus der verfahrenen Situation; bloss ein Ende nach dem Prinzip: Keine Lösung ist auch eine Lösung. Sollte der alte Deus ex Machina etwa müde geworden sein?
Des Rätsels Lösung: In Zürich spielt man die kürzestmögliche der immer weiter verkürzten Varianten dieser Schlussszene, die Mozarts theaterpraktische Entwicklung widerspiegeln. Seinem dramaturgischen Gespür, dem schon die Rede des Geistes im «Hamlet» als langatmig (weil retardierend) erschien, genügten am Ende des eigenen «Dramma per musica» ein paar wenige Verse, um die Sache klarzumachen. Sie genügen auch Jetske Mijnssen, der Regisseurin der Neuinszenierung, aber aus anderem Grund.
Problematik des Opfers
Die Niederländerin war lange Zeit vorwiegend an mittleren Häusern tätig und hat dort verlässlich für reibungslos funktionierende Werkdeutungen gesorgt; sie will auch in Zürich das Orakel nicht neu erfinden – geschweige denn, wie einst Nikolaus Harnoncourt bei seinen bahnbrechenden Aufführungen 2008 in Graz und 2010 in Zürich, gleich den ganzen «Idomeneo» auf eine neue Rezeptionsebene heben. Mijnssen konzentriert sich in ihrer vom Publikum freundlich, aber ohne besondere Emotionen aufgenommenen Lesart auf die Problematik des Opfers.
Um den Fängen Neptuns zu entkommen, hat der Kreterkönig Idomeneo auf der Heimfahrt vom besiegten Troja dem Meergott ein Blutopfer versprochen: Den ersten Menschen, dem er in der Heimat begegnet, will er ihm zur Besänftigung darbringen. Es ist, man sah es kommen, sein eigener Sohn Idamante. Und fortan wird Idomeneo den Rest des Abends mit den Mächten hadern, die ihn in dieselbe Rolle drängen wie einst den Erzvater Abraham mit seinem Isaak – oder auch den unseligen Agamemnon mit der hingeschlachteten Tochter Iphigenie.
Mijnssens optisch und theatralisch unaufgeregte Regie wirkt immer dort am stärksten, wo sie das Geschehen im weitgehend statischen Bühnenkasten von Gideon Davey nicht bloss bebildert, sondern das komplexe Themenfeld um Opfer, Rache und Verzeihen ausdeutend vertieft. Etwa wenn sie beim Auftritt der – hier gar nicht furienhaften – Elettra mithilfe von Statisten die fatale Tötungsdynamik der Atridentragödie nachstellt, die mit der besagten Opferung Iphigenies in Gang gesetzt wurde.
Oder wenn Mijnssen mit einem szenischen Leitmotiv – den stets wie Monstranzen herumgetragenen oder auf Tischen ausgestellten Erinnerungsfotos im Rahmen – deutlich macht, dass jeder in diesem vom Krieg und von den Kräften einer zürnenden Natur verwüsteten Reich Idomeneos wohl bereits mehr als ein persönliches Opfer gebracht hat. Dies gilt nicht zuletzt für Ilia, die nach Kreta verschlagene Prinzessin aus Troja, die dem antiken Weltgemetzel nicht bloss ihre Heimat, nein, gleich ihre ganze Familie opfern musste. Ihre Liebe zu Idamante, also zum Sohn des Feindes, könnte ein Signal der Hoffnung sein – und eine Lösung. Nur bekommt Mijnssen die Fäden am Ende nicht mehr recht zusammen.
Das ist schade, denn an sich mangelt es der Inszenierung nicht an klugen Gedanken – beispielsweise dem, dass es eben nicht Neptun oder irgendeine herrische Gottheit ist, die Seeungeheuer, Tod und Hass auf die Menschen loslässt; vielmehr muss der Einzelne das Ungeheuer – oder genauer: das Ungeheure – in sich selbst bekämpfen, um der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Leider fehlt es Mijnssen an Kraft, für diese Ideen angemessen starke Bilder zu finden. Namentlich die Schlüsselszene des Orakels, das hier als mahnende innere Stimme gedeutet wird (und unsichtbar bleibt), verpufft in der szenischen Wirkung völlig.
Gleiches Recht für Bühne und Graben
Zum Glück aber nicht im Musikalischen. Der Dirigent Giovanni Antonini weiss um die Wirkung, die gerade die historischen Posaunen mit ihrem etwas topfig-metallischen Klang haben können. Und er kostet den Effekt weidlich aus. Überhaupt profitiert dieser «Idomeneo» in jeder Hinsicht von den alten Instrumenten des hauseigenen Originalklang-Ensembles La Scintilla. Dass Mozart die Oper für das beste Orchester seiner Zeit komponierte, nämlich die nach München umgesiedelte Mannheimer Hofkapelle, hört man hier mit jedem Takt in aufregender Weise neu.
Wer ausser Mozart hätte es um 1780 wagen können, dem Orchester einen derart anspruchsvollen und eigenständigen Orchesterpart zuzuweisen, in dem vor allem die Holzbläser immer wieder solistisch und bei Ilias «Se il padre perdei» im Vorgriff auf die «Martern»-Arie der nachfolgenden «Entführung aus dem Serail» sogar konzertierend hervortreten. Der transparente, weniger pastose Ton des historischen Instrumentariums führt hier tatsächlich – lange vor Wagner – zu einer völligen Gleichberechtigung von Bühne und Graben. Und wann hört man so giftig schnarrende gestopfte Hörner wie in der Marcia vor dem trügerisch-schönen Chor «Placido è il mar» im zweiten Akt.
Die Folgen für die Wirkung der Musik sind beträchtlich: Dies ist ein durch und durch dunkel getönter, manchmal nachtschwarzer Mozart, mindestens so abgründig wie später im «Don Giovanni». Nicht einmal in der Scena ultima gönnt uns Antonini ungetrübten Sonnenschein – ganz anders als Harnoncourt, der es am Schluss zauberflötenhell leuchten liess und der in Graz und Zürich überdies den Mut hatte, die meist gestrichene Ballettmusik KV 367 wieder ans Ende zu stellen, in Choreografien von Heinz Spoerli.
Die Sänger, ausgenommen die bereits überragend souveräne Guanqun Yu als Elettra, sind allesamt Rollendebütanten – was noch auf eine gewisse Entwicklung bei den bis dato eher holzschnitthaft wirkenden Figurenporträts hoffen lässt. Gesungen wird dagegen auf angemessen verfeinertem Mozart-Niveau, besonders von Hanna-Elisabeth Müller als innig leidender Ilia und von Anna Stéphany, die den Idamante mit ihrem herrlich ausgewogenen Mezzosopran intensiv durchglüht.
Joseph Kaiser macht den Titelhelden zu einem Vorläufer von Brittens Peter Grimes, seiner Paraderolle – ein Aussenseiter, der den Weg zurück in die Zivilgesellschaft nicht mehr findet und sich leidenschaftlich in die Opferproblematik verbeisst. Stimmlich muss Kaiser allerdings an den Registerwechseln in der Höhe und der Geläufigkeit der Koloraturen arbeiten. Der Chor des Opernhauses, einstudiert von Ernst Raffelsberger, ist historisch gesehen zu stark besetzt; er braucht denn auch eine Weile, um sich präzise mit Antoninis vorantreibendem Schlag zu koordinieren. Doch im frenetischen «Scenda amor» des Schlusschors wird auch deutlich, dass das Volk die Botschaft des Orakels in diesem Stück wieder einmal besser verstanden hat als die Mächtigen.