Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (06.02.2018)
Mozarts Oper gilt als kaum inszenierbar. Die neue Zürcher Produktion überzeugt – dank Gesang und Musik.
Der Vorhang geht auf, und wir sehen: sechs Särge, darunter ein ganz kleiner. Eine Frau in grauem Deuxpièces, die ein Familienfoto an sich drückt. Keine Farbe, nirgends.
Schon da ist klar, dass Mozarts Operaseria «Idomeneo» in der neuen Zürcher Produktion zur Opera serissima wird. Es ist ja auch tatsächlich ein düsterer Stoff, der hier verhandelt wird: Der Krieg von Troja ist vorbei, aber die Menschen haben noch längst nicht fertig gelitten.
Gefühle wie in einem Oratorium
Da ist Idomeneo, König von Kreta, der knapp einem Sturm entronnen ist und Neptun dafür versprach, den ersten Menschen zu opfern, den er trifft. Da ist dieser erste Mensch – ausgerechnet sein Sohn Idamante, der nicht versteht, warum ihn der Vater wegschickt, und der zudem Liebeskummer hat. Zwar wird er wiedergeliebt von der trojanischen Prinzessin Ilia; aber die ist eben die Frau in Grau, hat im Krieg ihre Familie verloren und hadert mit ihren Gefühlen für einen, der eigentlich ihr Feind sein müsste. Und dazu kommt dann noch Elettra, die ja bekanntlich ebenfalls eine familiäre Bürde zu tragen hat und nun vollkommen aussichtslos Idamante liebt.
So weit die Geschichte, vor der viele Regisseure mit guten Gründen zurückschrecken. Denn es wird wenig gehandelt, aber umso mehr geklagt in diesem «Idomeneo»; fast wie in einem Oratorium werden die Gefühle ausgebreitet. Und dann stellt sich auch noch das Problem mit Neptun: Was soll man anfangen mit diesem Gott der Meere?
Schon zu Mozarts Zeiten hat niemand mehr an ihn geglaubt, aber man mochte immerhin das szenische Spektakel, das seine Stürme und Ungeheuer bieten konnten. Heute ist der Hang zum Realismus stärker als jener zur Fantasie, und für die erstmals im Opernhaus inszenierende niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen war deshalb klar: Neptun, das ist Idomeneos Kriegstrauma. Die Idee, dass er seinen eigenen Sohn opfern müsse, ist nichts anderes als die Wahnvorstellung eines kranken Mannes.
Da ist es nur konsequent, wenn Mijnssen auch den Siegesjubel des Volkes szenisch unterläuft. Die Töne mögen triumphal sein – auf der Bühne sieht man nichts als Leid und Erschöpfung. Mal sind die Szenen realistisch, mal symbolisch. Und in der kargen Ästhetik von Gideon Daveys grauer Bühnenbox, in den staubigen Farben von Dieuweke van Reijs Kostümen, in den Trauma-Pantomimen der Statisten wirken sie so trostlos, wie sie gemeint sind.
Die Musikallerdings: Die stemmt sich heftig und farbenreich gegen all das Grau. Mozart hat die Krisen der Figuren in dieser 1781 in München uraufgeführten Oper so empathisch vertont, wie nur er es konnte. So mag das Stück zwar ein einziger Seufzer sein: «O Ilia! O Vater! O Götter!» Aber dieser Seufzer klingt immer wieder anders: traurig, melancholisch, verzweifelt, verbittert, zornig, resigniert.
Dafür sorgen auch der Dirigent Giovanni Antonini und das Orchestra La Scintilla, die das musikalische Leiden in allen möglichen Schattierungen gestalten. Schlägt das Schicksal zu, hört man in den ersten Parkettreihen neben den Pauken und Trompeten auch Antoninis anfeuerndes «Tam-tam-ta-dam» – als ob er persönlich jedes bisschen Energie aus jedem einzelnen Instrument locken möchte. Nicht weniger intensiv und expressiv geraten die stillen, lyrischen Passagen, die weit mehr über das Innenleben der Figuren verraten als das Bühnengeschehen. Die Chöre haben Kraft und Konturen. Und die Rezitative werden so behutsam und lebendig begleitet, dass man keinen Takt davon missen möchte.
Es sind so viele Nuancen in dieser Musik, dass man dann doch ein wenig zu zweifeln beginnt an der Inszenierung. Natürlich, die Bilder sind eindrücklich – in ihrer Kargheit, in ihrer Klarheit. Und natürlich misstraut die Regisseurin dem Tempo, mit dem in dieser Oper ein Krieg ad acta gelegt wird, zu Recht. Dass auch das (in der Opera seria obligatorische und mit einer Stimme aus anderen Sphären ziemlich unverhofft herbeigezauberte) Happy End hier depressiv wirkt: Wer würde das nicht verstehen?
Aber in ihren theatralischen Mitteln stösst die Aufführung rasch an die Grenzen, die sie sich gesetzt hat. Ist es der Schmerz, der die Protagonisten an die Rampe bannt, oder eher eine einfallslose Personenregie? Ist die szenische Zeitlupe notwendig oder verrät sie die Schwierigkeiten mit einem Stück, in dem die Action zum allergrössten Teil in den Seelen stattfindet (und dann auch noch in Da-capo-Arien auf der Stelle tritt)?
Immerhin, die Sängerinnen und Sänger können vermitteln, was in ihren Figuren vorgeht. Wie viel Wärme legt etwa Hanna-Elisabeth Müller in die erste Klage-Arie der Ilia! Man hört da nicht nur eine verzweifelte Hinterbliebene, sondern eine zutiefst erschütterte Frau: Der Schmerz, die Liebe, die Schuldgefühle, die Sehnsucht nach besseren Zeiten – all das prägt ihre Musik.
Fulminant wie selten
Auch die übrigen Protagonisten präsentieren sich als schillernde Charaktere. Und obwohl sie ganz verschiedene Muttersprachen haben und fast alle ihre Rollen zum ersten Mal singen, fügen sie sich zu einem stimmigen Ensemble. Anna Stéphany in der Hosenrolle des Idamante changiert mit kernigem Mezzosopran zwischen Entsetzen und Liebe. Joseph Kaiser gibt einen Idomeneo, der sich auch stimmlich unmenschliche Härte abverlangt, aber in den innigen Momenten ganz bei sich ist. Und Guanqun Yu holt aus der wirklich undankbaren Rolle der von vornherein chancenlosen Elettra fast mehr heraus, als drinsteckt: So fulminant wütend und enttäuscht wie bei ihr hört man das «O smanie! O furie!» selten.
In solchen Momenten ist man der Regie dann doch wieder dankbar, dass sie der Musik ihren Raum lässt. Dass sie keine Hektik verbreitet, wo keine sein soll. Das Vorurteil, dass der «Idomeneo» kaum zu inszenieren sei, kann sie so zwar nicht widerlegen. Aber wie grossartig, persönlich und eigenwillig dieses Werk ist: Das wird gerade deshalb klar.