Jörn Peter Hiekel, Die deutsche Bühne (05.03.2018)
Nikolaus Lenau wurde einst von Mendelssohn, Liszt und Schumann geschätzt und vertont. Ist das für den Schweizer Komponisten Heinz Holliger Grund genug, sich dem Dichter ebenfalls zu widmen? Eine solche Erklärung würde, obwohl man von Holligers Vorliebe vor allem für Schumann weiß, gewiss zu kurz greifen. Doch tatsächlich sucht Holligers nun am Opernhaus Zürich uraufgeführtes Musiktheaterwerk „Lunea“, das den Untertitel „Lenau-Szenen in 23 Blättern“ trägt und konzeptionell auf einen vor fünf Jahren entstandenen Zyklus mit eigenen Lenau-Vertonungen zurückgeht, auf den Spuren der großen Romantiker zu wandeln und Potenziale romantischer Erfahrung in die Gegenwart zu transformieren. Sein Freund Pierre Boulez hat ihn einst als „Erzromantiker“ etikettiert. Und Holliger erwähnt das sogar gern. Weiß er doch, dass seine hochexpressive Musik ebenso wenig mit billiger Neoromantik, Nostalgie oder Sentimentalität zu tun hat wie die dramaturgischen Grundkonstellationen seiner Werke.
Für „Lunea“, von Holliger in Zusammenarbeit mit dem opernerfahrenen österreichischen Dichter Händl Klaus konzipiert, gilt das allemal. Denn diese zweite Oper des Komponisten kreist um Reflexionen und Erlebnisse einer vielfältig begabten Künstlerpersönlichkeit, die ein sehr modernes Leben führte – bevor sie die letzten ihrer nur 48 Lebensjahre in der Irrenanstalt verbrachte. Holliger, der sich nach eigenem Bekunden vor allem für Künstlerpersönlichkeiten interessiert, die „innerlich zerschnitten“ sind, geht es darum, dieses Schicksal Lenaus bewusst zu machen. Nicht minder freilich geht es ihm um die die Qualität und Nachdrücklichkeit von dessen Lyrik. Die bewusst sprunghafte Szenenfolge, die weit jenseits einer linearen Handlung ein Kaleidoskop stets nur aufblitzender Erfahrungsmomente und dichterisch formulierter Visionen enthält, gewährt mit alledem einen Blick auf die abgründige, enigmatische Seite der Romantik. Diese ist zum Bersten voll mit existentiellen Erlebnissen, die keineswegs zeitgebunden sind. Sie kreisen vor allem um Momente von schwindendem Glück sowie von Liebe, Freundschaft und Sehnsucht – zwischendurch freilich auch ganz bodenständig um die Vermögensverhältnisse und Amerika-Erfahrungen des an der Welt irrewerdenden Dichters.
Die Figur des Lenau selbst ist in diesem Stück fast immer präsent. Um ihn herum wirken Personen, die ihn zu Dialogen und Einsichten, aber auch zu Verwirrungen veranlassen. Ausgleichend wirkt zunächst sein Freund Anton Schurz, der jenen Realitätssinn verkörpert, welcher Lenau wohl fehlt. Dieser zieht sich aber im Laufe der Szenenfolge mehr und mehr zurück, so dass die Frauenfiguren ins Zentrum rücken. Ihnen obliegt es, an die schier unübersichtliche Fülle von Liebesbeziehungen zu erinnern, die Lenau einging oder nach denen er zumindest trachtete. Eine von ihnen ist Sophia von Löwenthal, Lenaus große Liebe: eine verheiratete Frau, der er flammende Briefe schrieb und die ihn dazu bewog, seine zeitweiligen Verlobungen aufzulösen. Um die intensiven Konversationen der Vokalsolisten herum agiert ein Chor, der sich an den Gesprächen und Reflexionen des Stückes ebenfalls beteiligt.
Der Untertitel „Blätter“ deutet auf das Skizzenhafte, Fragmentarische aller 23 Szenen, die mit vielerlei Symmetriebildungen und Anspielungen operieren und ziemlich genau ab der Mitte wie ein großes Diminuendo zum Ende hin erscheinen. Alles dies trägt dazu bei, dass dem Ganzen trotz gewiss manieristischer Grundatmosphäre kein plakativer Charakter, sondern ein Äußerstes an Intensität zuwächst. Man fühlt sich wie im Traum, wird Zeuge einer Umnachtung, die mit der im Titel des Werkes gesetzten Mond-Metaphorik unschwer in Verbindung zu bringen ist. Dies liegtnicht zuletzt an der suggestiven, stets im Grenzbereich zwischen Klarheit und Verrätselung lavierenden Sprache, die mit vielen Wortspielen operiert und dabei geprägt ist von unmerklichen Übergängen zwischen Lenau-Fragmenten und subtilen Zutaten des Librettisten.
Entscheidend für die besondere Wirkung dieses Stücks ist jedoch die enorme, alles Obsessive betonende Schattierungsvielfalt auf musikalischer Seite. Der textlich-dramaturgischen Fragmentästhetik begegnet Holliger mit einem etwa 90-minütigen Klanggemälde, das zwar in seinem fortwährenden Hang zum Brüchigen auf den ersten Blick bemerkenswert einheitlich und reduziert erscheint, aber im Innern doch von einem schier atemberaubenden Spektrum von Farben und Gesten geprägt ist. Die Momente aufblitzender Gedanken und Leidenschaften reflektiert Holliger immer wieder mit energiereichen, zuweilen dramatischen Klangbewegungen, oft auch recht virtuosen Passagen. Doch kennt diese Partitur, in die Anspielungen auf Liszt, Schumann und andere Romantiker eingelassen sind, auch eine Vielzahl von fahlen, düsteren und sogar kargen Klängen. Gerade der Eindruck des Unentrinnbaren, der für Holligers Lenau-Sicht wesentlich sein dürfte, tritt dadurch nachdrücklich hervor.
Meisterhaft wird dies alles von der Philharmonia Zürich unter Holligers eigener Leitung ausgespielt. Selten hört man Uraufführungen, bei denen ein hauseigener Klangkörper gleich bei der Premiere derart eindringlich agiert. Stupend ist über weite Strecken auch die Leistung der Vokalsolisten. Mit zumindest drei von ihnen, dem famosen Christian Gerhaher wie den kaum minder eindrucksvoll agierenden Sopranistinnen Juliane Banse und Sarah Maria Sun, verbindet Holliger eine langjährige Zusammenarbeit – man hat das Gefühl, ihnen seien die drei wesentlichen Rollen geradezu auf den Leib komponiert. Freilich gilt dasselbe auch für die Basler Madrigalisten (Einstudierung: Raphael Immoos) – zumal dieses Stück im chorischen Gesang, der eine Vielfalt von Atemlauten ausspielt, sogar noch reicher schattiert ist als bei den Solisten.
Zum Erfolg dieses anspruchsvollen und suggestiven Opernabends trägt auch Andreas Homoki bei. Denn seine ebenso sparsame wie poetische Inszenierung vermeidet alles, was diese Romantik-Reflexion ins Äußerliche oder bloß Gefühlige umkippen lassen könnte. Sie bewegt sich fast monochrom im Grenzbereich zwischen Blau- und Schwarztönen, setzt durch sich kontinuierlich verschiebende Wände einen gliedernden, sachlich wirkenden Gegenakzent zu aller Magie. Und lässt auch durch Personenregie und Kostüme jenes durchaus nicht leicht zu fassende Bild von Romantik aufscheinen, das uns heute gleichzeitig anheimelnd vertraut wie fern erscheint. Bezeichnend dafür ist jene Lenau-Textzeile aus der 6. Szene, die der Regisseur beim Verlöschen der Klänge ganz am Schluss des Stückes noch einmal an die Wand projizieren lässt: „Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit.“