Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (06.03.2018)
Düster, rätselhaft – und immer wieder berückend schön: Das war die Uraufführung von Heinz Holligers «Lunea» im Zürcher Opernhaus.
Manchmal ist eine gute Idee ein Kinderspiel. In Andreas Homokis Inszenierung von «Lunea» ist das so: Sie funktioniert wie jene Zaubertafeln, auf die man mit einem Magnetstift zeichnet. Dann zieht man einen Schieber durch – und alles ist wieder weg. Genauso ist es bei Frank Philipp Schlössmanns Bühnenbild: Wir sehen eine Szene; eine Tafel schiebt sich darüber; und dann kommt eine ganz andere Szene zum Vorschein. Diese Szenen allerdings sind keine Kinderzeichnungen, sondern lebendig gewordene Schwarzweissfotos. Und die Wirkung ist nicht nur magisch, sondern auch einigermassen verstörend.
Das muss so sein. Denn «Lunea» ist ein düsteres, beunruhigendes Stück. Im Zentrum steht der Dichter Nikolaus Lenau (1802–1850), der nach einem Schlaganfall keine Biedermeierlyrik mehr verfasste, sondern rätselhaft-luzide Sätze auf Zettel schrieb. Sätze am Rande des Wahnsinns, die den Komponisten Heinz Holliger schon lange faszinieren: 2013 wurde am Zürcher Opernhaus seine Liedersammlung «Lunea» uraufgeführt. Später hat er die Klavierbegleitung dieser Lieder zu einer Orchesterfassung erweitert. Und nun ist das Stück also – nein, keine Oper geworden. Aber ein rund 100-minütiges Musiktheater, das nur eine Frage beantwortet: Ja, Heinz Holliger ist wirklich ein grossartiger Komponist.
Sonst bleibt alles in der Schwebe. Es gibt keine Handlung in dem Werk, das sich aus 23 jede Chronologie vermeidenden «Lebensblättern» zusammensetzt. Die Figuren, die darin auftreten, tragen zwar Namen von Menschen aus Lenaus Umfeld – aber im Taubengrau der historischen Kostüme (Klaus Bruns) kann man zumindest die Frauen kaum voneinander unterscheiden. Man hört Sätze, die einem höchstens in einem Traum klar wären. Und noch häufiger setzt der Librettist Händl Klaus auf Satzsplitter, gespiegelte Wörter, einzelne Konsonanten. Der Sinn verflüchtigt sich, die Sprache wird zum Klang.
Alchemie der Klänge
Reden wir also vom Klang, den Holliger nicht nur als Komponist, sondern auch als Dirigent der Uraufführung gestaltet. 34 Instrumentalisten der Philharmonia Zürich sitzen vor ihm, eine eher kleine Besetzung; aber was sie spielen, klingt nach mehr, oder nach weniger, oder nach ganz anderem. So übersichtlich die «Lunea»-Partitur aussieht: Sie verrät ein geradezu alchemistisches Gespür für Klangwirkung. Holliger mischt die Instrumente so, dass man sie manchmal kaum noch identifizieren kann; das Cimbal, die üppige Perkussion oder die Kontrabassklarinette liefern zusätzlich ungewohnte Farben. Und dann sind da noch die Chorsänger der Basler Madrigalisten, die zwar immer wieder auf der Bühne auftauchen – aber weit öfter aus dem Off singen, als seien auch sie Instrumente.
Was sich daraus entwickeln kann, zeigt sich schon in den ersten Sekunden des Stücks. Glocken hört man da, gegossen aus einem Chor-«m», einem Gongschlag, einem rasch verstummenden Hornstoss, einem irisierenden Cimbalom-Klavier-Harfen-Gewebe und allerlei anderem. Wenn dann der Bariton Christian Gerhaher einsetzt, auf einem einzigen Ton, als sei er selbst eine Glocke, meint man seine Worte schon zu kennen: «Um Mitternacht entstand dies Lied, zwölfmal erklang das Glockenerz.»
Ungemein detailliert ist das gestaltet, in der Partitur wie in der Aufführung. Und man könnte dasselbe sagen über den Rest des Abends: über das Gewisper der Instrumente, über die leicht verschobenen Bläserchöre oder die Klangblitze, unter denen man zusammenzuckt. Einzig das rhythmisierte Sprechen der Protagonisten wirkt manchmal formelhaft – und betont erst recht, wie eigen diese Musik ansonsten ist. Wie ruhig bei aller Bewegtheit, wie berückend schön auch: Bald einmal versetzt sie einen in eine Stimmung, in der man gern darauf verzichtet, verstehen zu wollen, und sich ganz den Bildern und Klängen überlässt.
Das kann man allerdings auch deshalb, weil die Bilder eben doch einen gewissen Halt bieten. An den Seiten werden in altertümlicher Leuchtschrift die Lebensblätter nummeriert; und exakt in der Mitte des Stücks, beim «Riss», als den Lenau seinen Schlaganfall bezeichnet hat, wechselt die Richtung der Wand, die sich nach jedem Blatt vor der Szene durchschiebt. Homoki stelle auf den Boden, was er als «Wolkengänger» sich ausgedacht habe, hat Holliger vor der Uraufführung gesagt; aber er tut es sachte, ohne den Reiz des Werks zu zerstören, ohne es zu vergröbern.
Denn die Bilder sind genau so präzis arrangiert wie die Klänge. Biedermeiermöbel tauchen auf und verschwinden wieder, genau wie die Menschen, die sich auf ihnen und um sie herum gruppieren. Hinter der Bühne muss gezaubert werden, damit das alles klappt, ohne dass man vorne etwas mitbekommt. Dass die Wand irgendwann nicht mehr ganz geräuschlos verschoben werden kann, ist da wirklich unverdientes Premierenpech für eine Technik, bei der sonst alles stimmt.
Und die Sängerinnen und Sänger spielen mit. Reglos sitzen sie da, nachdem sie sich blitzschnell in Position gebracht haben; ihre Gesichter sind halb im Schlagschatten, als ob tatsächlich ein Riss durch sie ginge. Und sie singen und sprechsingen und agieren, als hätten sie nie etwas anderes getan.
Wie vertraut sie sind mit Holligers Musik, zeigt sich in jedem einzelnen Moment. Christian Gerhaher, der schon die «Lunea»-Lieder uraufgeführt hat, gibt den Lenau, als sei er Lenau: Einsam und anmassend, rätselhaft und impulsiv, neurotisch und unheimlich wirkt er in dieser Partie, und wenn von einem «mich» irgendwann nur noch ein gefauchtes «ch-ch-ch» übrig bleibt, dann wirkt das wider Erwarten kein bisschen kindisch – sondern existenziell.
Die Geliebte ist auch die Mutter
Die zweite starke Figur ist Sophie von Löwenthal, die ewig unerreichbare Geliebte, die verheiratet war, aber Lenau von jeder anderen Beziehung abbrachte. Juliane Banse gibt sie mit ihrem unverkennbar dunklen, runden Sopran, mit dem sie vor zwanzig Jahren schon das Schneewittchen in der Zürcher Uraufführung von Holligers Robert-Walser-Oper sang. Zwischendrin tritt sie auch als Mutter auf, ohne einem eine psychoanalytische Sicht aufzudrängen oder auszutreiben: Auch sie weiss, wie man Dinge in der Schwebe hält.
Sarah Maria Sun, Annette Schönmüller und Ivan Ludlow in den übrigen Rollen wissen es ebenfalls. Sie geben ihren Figuren Profil und lassen es wieder verschwimmen, sind ganz da und weit weg, als Figuren auf einer Schwarzweissfotografie, die man neugierig, aber auch ein wenig ratlos betrachtet. Nahe kommen sie einem nicht – und erinnern einen damit auch ein bisschen daran, wie eng der eigene Horizont ist.
«Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit», singt Lenau einmal, und bevor es ganz dunkel und still wird (und danach laut dank dem einhelligen Applaus), leuchtet der Satz als Projektion noch einmal auf. Und tatsächlich, er trifft ziemlich genau das Gefühl, dass man als Mensch im Zuschauerraum an diesem Abend hatte.