Simon Bordier, Basler Zeitung (06.03.2018)
In Heinz Holligers neuer Oper «Lunea» taumelt ein Dichter durch Sprach- und Zeitgefilde
Je weniger passiert, desto mehr gewinnt Heinz Holligers neue Oper «Lunea» über den romantischen Dichter Nikolaus Lenau an Intensität. Das heisst, richtig intensiv wird es erst am Schluss, wenn das Zeitgefühl vollends ausser Kraft gesetzt wird. Was bleibt, sind poetische Worte wie jene von der durch Bienen in Wachs verwandelten Blume, die auf dem Altar als Kerze brennt. Aber im Grunde ist auch die Zeit der Worte vorüber. Den letzten Lenau-Satz («Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit») liest man als Projektion an der Wand, dann erlischt auch er. Zum Schluss bleibt nichts als das Raunen der Zeit, ein atmosphärisches Flimmern, luftig, fein und intensiv zugleich, und man möchte meinen: Holliger-Sound pur.
Der Weg dorthin ist lang. In dem anderthalbstündigen Stück, das am Sonntag im Opernhaus Zürich uraufgeführt wurde, werden 23 Stationen aus dem kurzen, bewegten Leben des Dichters Nikolaus Lenau (1802–1850) beleuchtet. Die 23 «Lebensblätter», die der Librettist Händl Klaus nach Zitaten aus einem Notizheft Lenaus angefertigt hat, werden nicht chronologisch präsentiert. Vielmehr wird zu Beginn des Stücks ein Hirnschlag des Dichters inszeniert, durch den das Zeitgefüge durcheinander gerät (tatsächlich erlitt Lenau 1844 einen Schlaganfall).
Bleiches Biedermeier
Die Zeit vergeht mal schneller, mal langsamer, mal gehts rückwärts, dann vorwärts. Auch das Personal um den Dichter, der von dem Bariton Christian Gerhaher sängerisch wie schauspielerisch grossartig gespielt wird, ist seltsam: Bleich und im einheitlichen Biedermeierlook gekleidet, wandeln die Figuren wie Halbtote auf der Bühne herum, setzen sich zu Tableaux vivants zusammen und sehen sich dabei oft zum Verwechseln ähnlich (Kostüme: Klaus Bruns).
Der Opernintendant und Regisseur des Stücks, Andreas Homoki, gibt Orientierungshilfen. So sind die 23 Stationen durchnummeriert, und zwischen den einzelnen Szenen zieht gleichsam wie eine Filmklappe eine schwarze Wand vorbei. Das minimalistische Bühnenbild von Frank Philipp Schlössmann lässt den Sängern viel Raum und führt zu einigen starken Bildern. Insbesondere die Bewegungen des Dichters um die schwarze Wand herum veranschaulichen sein Irren durch die Zeiten sehr schön.
Trotz aller Orientierungshilfen verliert man als Zuschauer schnell den Überblick. Wer die Zeitrelationen ansatzweise verstehen will, sollte das Programmheft zu Rate ziehen. Man kann natürlich von einem interessierten Publikum erwarten, dass es das tut. Andererseits kommt unter dem Geflecht von Zeit-, Raum- und Figurenkonstellationen das Szenische oft zu kurz. Noch bevor man sich etwa mit der Geliebten Lenaus, Sophie von Löwenthal (Julia Banse), vertraut gemacht hat, erscheint diese plötzlich in der Mutterrolle. Zumindest der Dichter glaubt in der Geliebten seine Mutter zu erkennen und spricht sie als solche an; als Zuschauer kommt man nicht unbedingt mit.
Eine der stärksten Szenen ist jene, in der Lenau zwischen seiner Geliebten und seiner Braut (Sarah Maria Sun) schwankt – und Letztere sitzen lässt. Oft aber ist in der Beziehung des Protagonisten zu anderen Figuren wie dem Ehepaar Therese Schurz (Annette Schönmüller) und Anton Schurz (Ivan Ludlow) keine Spannung zu spüren. Sie wirken wie Schatten oder Spiegel des Protagonisten, doch selten wie eigenständige Figuren. Das mag so gewollt sein, dramatisches Theater ergibt sich daraus nicht.
Spannend wird es, wenn die Aufmerksamkeit auf die Poesie und die Musik gelenkt wird. Das gilt für den eindrücklichen Sprachzerfall, der zum Riss im Zeitgefüge führt, dann aber auch für das heftige Duett, das sich der Protagonist mit der Sologeigerin liefert. Es ist, als kämpfe er gegen sich selbst. Gerhaher zeigt uns einen taumelnden, verzweifelten Dichter, der dem nahenden Tod bezaubernde Verse abringt (siehe oben). Und wie bei Holligers letzter Oper «Schneewittchen» vor 20 Jahren ist auch diesmal Julia Banse dabei. Mit ihrem vollen, warmen Sopran weckt sie Sehnsüchte, bildet aber auch einen angenehmen Ruhepol.
Basler Stimmen
Im Vergleich zur kargen Bühne wirken nicht zuletzt die Philharmonia Zürich und die Basler Madrigalisten (Choreinstudierung: Raphael Immoos) stimmungsvoll, farbig, beziehungsreich. Nebst Anklängen an Choräle, Militärmusik und Tänze geben sie der Aufführung eine ganz eigene Stimme: Immer dann, wenn die schwarze Wand vorbeizieht, ist ein feiner Tonstrahl oder ein Flimmern zu hören. Das prägt sich ein.
Für die klangliche Umsetzung zeichnet Holliger persönlich verantwortlich: Der 78-jährige Schweizer Komponist und Dirigent – eine lebende Legende – wirkt im Orchestergraben, quickfidel.