Tobias Gerosa, Luzerner Zeitung (07.03.2018)
Heinz Holligers «Lunea» im Opernhaus Zürich ist eine Reise in den Kopf des Dichters Nikolaus Lenau. Die Regie hilft sehr, da mitzukommen.
Am Schluss verdämmert alles. Die Wand wischt noch einmal über die Bühne, die letzte Figur wird von ihr weggewischt wie eine Kreideschrift auf der Wandtafel. Nur die Regenrohre rieseln noch zusammen mit allerleistesten Tönen aus dem schon dunkeln Orchestergraben. «Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit» steht in Projektion hinten im schwarzen Loch der Bühne, ein Aperçu des Biedermeier-Dichters Nikolaus Lenau.
Zusammenhängende Handlung gibt es nicht, nicht einmal Chronologie. Vielmehr sind da Splitter und Gedankenblitze, Situationen und Aphorismen, wie der am Schluss projizierte. Diesen lyrischen Strom im herkömmlichen Sinn zu verstehen, ist unmöglich, obwohl die musikalische Faktur wie die vokale Ausführung durch die hervorragenden Basler Madrigalisten als zwölfstimmigem Chor und die sechs Solisten äussert wortverständlich ausfällt. Wer aber Lenau nicht kennt und sich nicht vor der Vorstellung mit dem Thema und Holligers Ideen auseinandergesetzt hat, wird einen Zugang nur über die Musik haben. Komponist Holliger dirigiert diese Uraufführung selber und zeigt mit den rund 40 Instrumentalisten der Philharmonia Zürich, dass Lunea ganz über die Musik erschlossen werden muss – in dem Sinn ist das Werk vielleicht eher absolute Musik als Oper.
Inszenierung macht Struktur sichtbar
Es dominieren leise Töne, vielfach differenziert, viele kleine und kleinste Soli; auch die Stimmen sind – abgesehen von der Bariton-Titelpartie – immer wieder instrumental eingesetzt. Manchmal blitzt eine heftige Geste auf wie auch barocke oder romantische Klangzitate. Eine prominente, leise Rolle haben das Schlagzeug und das ungarische Zymbalon, die Konzertmeisterin Hanna Weinmeister darf sogar in einem kleinen Violinkonzert glänzen. Der Grundgestus bleibt gedämpft, statt grossem Fluss hüpft die Musik von Insel zu Insel. Dass der Dirigent die «23 Lebensblätter» der Partitur durchdirigiert und ineinander übergehen lässt, hilft dabei. Regisseur Andreas Homoki und sein Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann haben ein Inszenierungs- und Raumkonzept gefunden, das dieser musikalischen Struktur ideal entspricht. Die 23 Szenen werden mit Projektionen bezeichnet, als szenische Unterteilung fährt jedes Mal die Wand: Die ersten elf Bilder von rechts nach links, im zwölften und von dann an immer von links nach rechts. So wird die Spiegelsymmetrie der Partitur sichtbar, von der Holliger selber sagt, man könne sie nicht hören.
Auch wenn alles im Zwielicht bleibt: Die Regie zeigt deutlich, dass wir als Zuschauer in Lenaus Kopf kriechen. Das lässt der Musik den Vorrang, schafft aber doch ein überzeugendes Erklärungs-Angebot. Im einheitlichen Grau der Biedermeierkostüme sticht Lenau in schlichtem Schwarz hervor. Und Christian Gerhaher ist auch das überragende, vokale Zentrum der Aufführung. Um ihn herum: Juliane Banse als seine Lebensliebe Sophie und fünf weitere Solisten. Man kann bemängeln, dass das als Oper doch zu hermetisch bleibt. Oder man kann sagen, das spielt keine Rolle, entscheidend ist der Sog der Musik, der in Lenaus Kopf führt.