Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (29.05.2018)
Einnehmende Italianità, radikale Abstraktion in der Regie und gegensätzliche Sängerleistungen: Kontrastreich ist die Neuproduktion von Verdis «La forza del destino» mit dem Zürcher Leitungsteam Fabio Luisi und Andreas Homoki.
Das Schicksal schlägt bereits während der Ouvertüre zu. Chefdirigent Fabio Luisi hebt im Orchestergraben den Taktstock, und präzise bringen die Bläser der Philharmonia Zürich zweimal hintereinander die drei berühmten Unisono-Akkorde zum Klingen. Dann folgen, collageartig, alle die eingängigen Themen, die später in den vokalen Partien leitmotivisch aufgegriffen werden. Als die Ouvertüre in den ausgelassenen Schlussteil mündet, öffnen sich auf der Bühne zwei Flügel eines grossen Tores. Und da geschieht es: Der eine Flügel bricht auseinander – die Handlung kann nicht beginnen.
Nach der Ouvertüre gibt es eine Unterbrechung, der Regisseur und Intendant Andreas Homoki erscheint mit Mikrofon auf der Bühne des Zürcher Opernhauses und bittet, in Anspielung auf den Titel der Oper, um Entschuldigung für das technische Missgeschick. Die Ouvertüre zu Verdis «La forza del destino» erklingt nach kurzer Reparatur ein weiteres Mal. Beim zweiten Durchgang sieht man nun, was da in ihrer Schlussphase gezeigt werden soll.
Drahtzieher des Geschehens
Aus einer roten Röhre steigen drei groteske Gestalten, sie winken einen ganzen Chor von ebenfalls sehr schräg gekleideten Gestalten herbei, die sich im Vordergrund der Bühne zu einem choreografisch arrangierten Gruppenbild zusammenfügen. Als der Chor auseinandertritt, erblickt man in der Mitte drei Hauptfiguren. Es sind der Marchese di Calatrava, seine Tochter Leonora und sein Sohn, Don Carlo. Dann beginnt die Eröffnungsszene des ersten Akts mit dem Dialog zwischen Vater und Tochter. Diese ist unglücklich, weil sie ihren Geliebten, Don Alvaro, nicht heiraten darf, da der Vater ihn aus Standesgründen ablehnt. Andreas Homoki, die Kostümbildnerin Mechthild Seipel und der Choreograf Kinsun Chan – designierter Nachfolger von Beate Vollack am Theater St. Gallen – teilen das Personal der Oper in zwei Gruppen. Da sind zum einen die Figuren der Haupthandlung, zu denen auch der Padre Guardiano zählt. Optisch sind sie durch eine zeitlose bürgerliche Kleidung gekennzeichnet.
Ihnen gegenüber stehen die drei buffonesken «Nebenfiguren», die nun aber durch die Regie kräftig aufgewertet werden: Es handelt sich um die Wahrsagerin Preziosilla, den Mönch Fra Melitone und den Maultiertreiber Mastro Trabuco. Diese fungieren, zusammen mit ihrem Personal, als Drahtzieher des Geschehens, sind allgegenwärtig und steuern die Handlungen der Protagonisten. Sie spielen im wahrsten Sinn des Wortes Schicksal, fügen zusammen, trennen, ebnen oder versperren den Weg. Dieser Kunstgriff der Regie ist durchaus schlüssig und verleiht der arg disparaten Handlung Zusammenhang.
Ganz im Zeichen des Schicksals steht die von Hartmut Meyer entworfene Bühne, die radikal auf jeden Realismus verzichtet. Also kein Landhaus, kein Schlachtfeld, kein Kloster und keine Berglandschaft. Stattdessen sehen wir bewegliche Stellwände, die sich immer wieder zu einem Würfel fügen: dem Symbol des blinden Schicksals. Dazu passt das geometrische Farbkonzept, das die Wände als rot-schwarze und weiss-graue «Zebrastreifen» sehen lässt. Raffiniert darauf abgestimmt ist die von Franck Evin verantwortete Lichtgestaltung, die beispielsweise den Würfel in der Bühnenmitte bald von links, bald von rechts beleuchtet.
Dummer Zufall?
Rache oder nicht? Dies ist die Frage, die Carlo während zweieinhalb Stunden umtreibt. Gleich zu Beginn ist sein Vater durch einen Schuss, der sich versehentlich aus der Pistole Alvaros gelöst hat, getötet worden. Ein dummer Zufall. Aber der sterbende Vater hat seine Tochter verflucht, und Carlo hat an Alvaro und an seiner Schwester Leonora tödliche Rache geschworen. Der Bariton George Petean verleiht dieser Figur ein starkes Profil. Besonders im dritten Akt, dem Kriegsakt, der zur Hauptsache in der Auseinandersetzung zwischen Carlo und Alvaro besteht, kommt Carlos Charakter stimmlich und darstellerisch hervorragend zur Geltung. Fast wirkt der Rachsüchtige da zu sympathisch, was eigentlich im Hinblick auf den mörderischen Ausgang der Handlung nicht sein dürfte.
Eine Identifikationsfigur müsste hingegen der Alvaro von Marcelo Puente sein. Ist er aber nicht. Sein Tenor wirkt oft gepresst und in der Höhe schrill, und auch in der Rollenpräsenz steht er Carlo um einiges nach, was sich eben gerade in den Duetten des dritten Akts zeigt. Die einzige weibliche Rolle des Stücks, die der Leonora, ist sängerisch wie von der Dramaturgie her sehr anspruchsvoll. Im Liebesduett des ersten Akts vermag die Sopranistin Hibla Gerzmava noch nicht zu überzeugen. Doch in der Auseinandersetzung mit Guardiano, dem Padre des Franziskanerklosters, wo die Enttäuschte um Aufnahme bittet, wächst sie richtig über sich hinaus.
Ein Schicksalstor
Dass dieser Guardiano vom gleichen Sänger dargestellt wird wie der Marchese di Calatrava, ist eine raffinierte Entscheidung der Regie: Was der leibliche Vater Leonora verwehrt, gibt ihr der Vorsteher des Klosters im Übermass. Christof Fischesser realisiert die Doppelrolle mit Bravour. Ein Glanzlicht ist auch die Mezzosopranistin J'Nai Bridges in der Rolle der Preziosilla: eine Wahrsagerin, Verführerin, Drahtzieherin mit einem untrüglichen Gespür für Komik. Dass der kongeniale Ruben Drole wegen Krankheit für die Rolle von Fra Melitone ausfiel, ist bedauerlich. Der kurzfristig eingesprungene Gezim Myshketa war da wirklich nur ein Ersatz.
Grossartiges leistet bei dieser Neuproduktion der erweiterte Chor der Oper Zürich (Choreinstudierung: Janko Kastelic). Die Philharmonia zeigt sich an der Premiere in bester Form. Und Fabio Luisi beweist einmal mehr, dass er ein profunder Kenner des italienischen Repertoires des 19. Jahrhunderts ist. Italianità herrscht im Vokalen wie im Instrumentalen vom Anfang bis zum Ende. Am Schluss steigen die Violinen, von den zwei Harfen begleitet, zu luftigen Höhen auf, dann erklingen die Schicksalsakkorde erneut, aber nur noch ganz leise als Streicher-Pizzicati. Dazu sieht man im Hintergrund, wie im Himmel, die wiedervereinigte Familie mit dem Marchese, Leonora und Carlo. Dann schliessen sich die Flügel des Tores, und der psychisch zerstörte Alvaro bleibt im Vordergrund allein zurück.