Siri Kohl, VOX SPECTATRITIS (28.11.2006)
Wenn ein Regisseur seine Deutung einer Oper „surrealistisch“ nennt, ist das meist eine vornehme Umschreibung von „Ich kann alles machen und es muss nicht mal Sinn ergeben“. Dass Calixto Bieito seiner „Don Carlos“-Inszenierung in Basel den an Schiller angelehnten Untertitel „Ein surrealistisches dramatisches Gedicht“ gegeben hatte, wirkte wie die Ankündigung, einfach mal mit ein paar Ideen herumspielen zu wollen – aber ausgerechnet Bieito, dessen Blut-, Sex- und Gewaltorgien doch von ihm stets als Gesellschaftskritik, also als etwas durchaus Sinnhaftes bezeichnet wurden, sollte sich hinter dem Deckmäntelchen des Surrealismus verstecken? Man würde sehen.
Und man sah – zunächst einmal ein mit Palmen, Bildschirmen und seitlichen Absperrungen dem Madrider Atocha-Bahnhof nachempfundenes Bühnenbild (Ariane Isabell Unfried, Rifail Ajdarpasic). Die auffälligste Figur darin ist ein ständig präsenter, schwarzgeflügelter „Todesengel“ (Kostüme: Anna Eiermann), der Carlos gleich bei seiner Ankunft in Fontainebleau mit dem Schwert niederschlägt (und sich später, wenn er den Mund öffnet, als Comte de Lerme herausstellt – wenigstens singt er dessen Text). Gespielt wird die französische fünfaktige Fassung, allerdings mit Strichen gegenüber der Pariser Urfassung - z.B. ohne Ballett – und mit musikalischen Einsprengseln aus späteren Versionen, etwa im 2. Akt in den Duetten Carlos-Rodrigue und Rodrigue-Philippe.
Elisabeth tritt mit Reichsapfel und gekröntem Kind im Arm als „Himmelskönigin“ auf, Thibault schwebt als weissgewandeter Engel über ihr – hier standen offenbar spanische Marienbilder Pate. Überhaupt hat man das Gefühl, vieles in dieser Inszenierung schon irgendwo gesehen zu haben, entweder in anderen Inszenierungen des Werkes (die Autodafé-Spassgesellschaft samt Auftritt des Königs aus dem Zuschauerraum zeigte Konwitschny in Hamburg besser und eindrucksvoller), in Filmen (sicher durch Buñuels berühmtes aufgeschlitztes Auge inspiriert ist die Blendung der Eboli durch Elisabeth im 4. Akt, wo diese ihrer Konkurrentin die Augen aussticht und verspeist) oder sogar im realen Leben: Die Erhöhung Elisabeths zur Ikone, die nach ihrer Einwilligung in die Heirat mit Philippe vom Chor auf einem blumengeschmückten Podest davongetragen wird, erinnert an die gigantischen Heiligenbilder, die in den spanischen Semana-Santa-Prozessionen mitgeführt werden. Ein starkes Bild.
Einige wirkungsvolle Bilder, Anspielungen und Zitate sind denn auch das, was vom Geschehen vor der Pause im Kopf zurückbleibt – wie Carlos vom Mönch (Karl V.), der als Jesus mit blutgetränktem Gewand und Dornenkrone erscheint, mittels Rohrstockhieben immer wieder „Dieu seul est grand“ eingebleut wird (eine Reminiszenz an Bieitos jesuitische Erziehung), wie Posa im Duett mit dem König plötzlich einen nur notdürftig verscharrten Leichnam aus dem gerade frisch mit Baumsetzlingen bepflanzten Boden hervor reisst (ein solcher Setzling spielte schon bei Konwitschny eine tragende Rolle), wie im Duett Elisabeth-Carlos vor einer Nachmittags-Talkshow-Zuschauerschaft aus luftballonbewehrten „Hofdamen“ Intimstes öffentlich gemacht, ausgestellt und belauscht wird. Nur leider verkommt der darauf folgende Auftritt Philippes mit dem ersten Satz „Pourquoi seule, Madame?“ dadurch zur Farce…
Auf den Text sollte ohnehin nicht zu sehr achten, wer in dieser Inszenierung einen Sinn finden möchte. Und bei all den visuellen Anspielungen stets nach der Bedeutung zu forschen, führt auch oft zu nichts – das ist dann wohl surrealistisch… Wieso starren z.B. die Hofdamen während des Schleierlieds ständig auf Löffel, die sie in der Hand halten? Eine Art Uri-Geller-Imitations-Contest? Und wieso fungiert Thibault bei Philippes erstem Auftritt auch noch als Gräfin Aremberg, die Philippe für ihre Nachlässigkeit – sie habe die Königin mit Carlos alleingelassen, was hier, wie oben geschildert, nicht wirklich der Fall ist – verbannt, was sie aber nicht lange betrauern kann, da der König Elisabeth zwingt, Thibault/Aremberg zu erschiessen? Sollte durch diese Doppelrolle am finanzklammen Basler Theater Personal gespart werden?
Wider alles Erwarten – schliesslich inszeniert hier Bieito! - endet der erste Teil nicht mit einem Autodafé-Blutrausch. Doch der etwas verwirrt nach der Pause wieder in den Saal gekommene Zuschauer merkt bald, dass dieser Regisseur seinen Ruf zu Recht hat: Während Philippes Monolog werden die am Boden knienden Ketzer einer nach dem anderen abgestochen, Philippe vergewaltigt derweil singend seine apathische Frau und lässt sich danach von Eboli in der Badewanne reinigen und für seine Tat mit einer Perlenkette geisseln. Als Elisabeth über den Verlust ihrer Schatulle klagt, zieht Philippe Carlos unter dem Bett hervor, drängt die beiden Liebenden mit Gewalt zueinander. Eboli beichtet ihre Schuld, findet aber bei Elisabeth – entgegen aller Vergebungsbereitschaft, die diese Figur bei Schiller und Verdi auszeichnet – kein Verständnis; es kommt zur oben beschriebenen Blendung während „O don fatal“. Posa wird in der Kerkerszene angeschossen, gefesselt und anschliessend von Eboli auf Befehl des Grossinquisitors zu Tode gefoltert. Ein grauenhafter Bilderrausch ist das, ein Mahlstrom von Gewalt und Düsternis, dem man sich kaum entziehen kann – will man einmal tief Atem holen, merkt man die Anspannung, mit der der Körper unbewusst auf diese Bilder reagiert hat.
Dass das Bühnengeschehen einen solchen Sog entwickelt, wird erst möglich durch eine äusserst exakte, durchdachte Personenführung des Regisseurs und durch eine bewundernswert totale Hingabe der Sänger an seine Ideen. Doch mit einem schrecklich banalen Schlusseinfall zerstört Bieito vieles von der drückenden Weltuntergangsstimmung, die er zuvor aufgebaut hat (und die ja in der Musik von „Don Carlos“ überall zu finden ist): Beim Abschiedsduett legt Elisabeth Carlos einen Sprengstoffgürtel um, dazu werden auf den Bildschirmen – wie schon ganz zu Beginn der Aufführung – Bilder von den Madrider Attentaten des 11. März 2004 eingeblendet. Botschaft: Wenn du dein Leben nicht auf die Reihe kriegst, dein Vater dich nicht lieb hat und dir die Frau wegnimmt, wirst du ganz schnell zum Selbstmordattentäter. Ist es wirklich so einfach???
Wenn also auch die szenische Seite nicht vollends überzeugen konnte (beim Schlussapplaus gewannen übrigens die Bravo-Rufer gegen die Buh-Fraktion schnell die Oberhand), so doch die musikalische: Unter Balázs Kocsár leistete das Sinfonieorchester Basel mehr als nur Erfreuliches. Zwar konnte der Dirigent die Balance zwischen Bühne und Graben nicht immer 100%ig gewährleisten, dennoch hatte man nie das Gefühl, hier gebe es grundsätzliche Abstimmungsschwierigkeiten oder andere Probleme.
Sängerisch war der Abend zwiespältig. Keith Ikaia-Purdy gab einen sauber gesungenen, differenzierten Carlos, versuchte nicht als Tenor-Macho aufzutreten und mit Material zu protzen (was auch zur szenischen Anlage der Rolle nicht passen würde), sondern konzentrierte sich darauf, den immer wieder schlecht behandelten, im Grunde recht kindlichen Infanten zu zeigen. Mardi Byers (als leicht indisponiert angesagt) sang Elisabeth mit berührend zarten Höhen und imponierender Kraft – nicht durch schiere Lautstärke, sondern durch eine gut fokussierte Stimme – in mittleren und tieferen Lagen. Sie war auch neben Leandra Overmann als Eboli die beste Schauspielerin des Abends. Overmann kämpfte zeitweise mit schrillen, angeschärften Tönen, schlug sich aber durch vollen Körpereinsatz szenisch achtbar und erntete für ihr – grösstenteils am Boden liegend gesungenes! – „O don fatal“ begeisterten Applaus.
Diesen gab es peinlicherweise nicht nach Philippes Monolog „Elle ne m’aime pas“, sonst immer eines der absoluten Zugstücke dieser Oper. Doch Stefan Kocáns Bass war auch alles andere als enthusiasmierend, ihm ging jede Weichheit ab und auch die Fokussierung liess zu wünschen übrig. Der typisch slawische „offene“ Stimmklang reduzierte die Wortdeutlichkeit und gab der Stimme etwas unplatziert Waberndes. Das war aber alles nichts gegen das Mega-Tremolo, das Allan Evans als Grossinquisitor ins Feld führte. Hier musste man sich teilweise regelrecht zum Zuhören zwingen. Marian Pop als Rodrigue plagte sich zwischendurch auch mit einem übermässigen Vibrato, zeigte aber immer wieder – wie z.B. in der Kerkerszene – sehr gute Leistungen. Für die etwas geckenhafte Anlage seiner Rolle kam ihm sein adrettes Aussehen zudem sehr zugute. Was die kleineren Rollen angeht, war Aurea Marston als Thibault überaus hörenswert.
Soll man diese Inszenierung nun weiterempfehlen? Ja, wenn der Zuschauer bereit ist, sich auf suggestive Bilder – die manchmal etwas gar unreflektiert die viel beschworene „Ästhetik der Gewalt“ verherrlichen – einzulassen und die Deutungsmaschine im Kopf vielleicht auch mal auszuschalten; nein, wenn man den „Carlos“ lediglich als Stimmenfest geniessen möchte. So einfach ist das. Auch bei Bieito.