Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (26.06.2018)
Am Opernhaus Zürich inszeniert Calixto Bieito «L’incoronazione di Poppea» von Monteverdi als Grundsatzkritik am Medienkonsum
Alles Übel kommt aus der Badewanne. Lust und Mord haben hier ihren Platz, der kleine Tod genauso wie der grosse. Und gebadet wird viel in Calixto Bieitos Neuinszenierung von Monteverdis «Krönung der Poppea» am Opernhaus Zürich. Schon die Götter des Olymps, ziemlich ungezogene Gören, die wahrlich noch nicht trocken sind hinter ihren langen Ohren, ergehen sich lieber in elysischen Schaumschlägereien und anderen, arg pubertären Wasserspielen. Da darf Gott Amor (Jake Arditti) dann ausführlich das Pfeileschiessen üben, während Fortuna (Florie Valiquette) ihre Schlüpfer gleich reihenweise verliert und Virtù (Hamida Kristoffersen) irgendwann nur noch blöde kichert. Das Wohl der Menschheit hingegen – die kindischen Ewigen kümmert es wenig. Kann ja heiter werden, denkt man noch. Wird es aber nicht.
Vanitas vanitatum
In erster Linie denkt hier nämlich jeder bloss an sich selbst – und an seine persönliche Aussenwirkung. In Umkehrung von Shakespeares Diktum «Die Welt ist eine Bühne» hat Rebecca Ringst die Bühnenbretter des Opernhauses zum Laufsteg verlängert, eine elliptische Passerella rund um das Orchester gelegt und zusätzliches Publikum in sieben Stuhlreihen gegenüber dem Parkett placiert. So starren wir uns also den ganzen Abend gegenseitig an, während die Gestalten der Oper in teilweise atemberaubender Haute Couture (Kostüme: Ingo Krügler) über den Catwalk sprinten. In der ersten Bühnenreihe rechts, nicht zu übersehen, sitzt Zürichs Ballettchef Christian Spuck und fühlt sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Erst recht, als sein Gesicht kurz darauf riesengross auf einen halbrunden Bildschirm projiziert wird, der die Rückseite der Bühne füllt.
Freilich kann auch jeden anderen das Schicksal so unverhoffter Öffentlichkeit treffen, denn Zuschauer- und Bühnenraum – jegliche Trennung ist aufgehoben – sind mit einem halben Dutzend Kameras bestückt, die vor allem die Protagonisten der Oper, aber ein ums andere Mal auch die grossen und kleinen Eitelkeiten der Besucherinnen und Besucher ins Visier nehmen. Zu sehen ist das digitale «vanitas vanitatum» dann auf sage und schreibe vierzehn weiteren Bildschirmen, die rechts und links an den Proszeniumslogen prangen. Und ehe man noch Zeit hat, sich über die Botschaft hinter dieser Selbstbespiegelung zu ereifern, sich gar, im doppelten Wortsinn, «getroffen» zu fühlen, wird auf einigen der vielen Screens schon wieder gebadet.
Diesmal ist es Poppea selbst, des Kaisers ehrgeizige Gespielin, die mit ihrem Nero ins Schaumbad planschen geht. Und da beide unverhohlen sexsüchtig sind, bleibt es nicht lange beim Planschen. Die Götter-Kinder, im Hintergrund ständig präsent, geraten darob in helles Entzücken, der Philosoph Seneca weniger. Als der Stoiker dem despotischen Kaiser dessen ganze moralische Verkommenheit um die Ohren schlägt, ereilt ihn umgehend der Befehl zur Selbsttötung. Und alsbald wird die Wanne, der Überlieferung des Tacitus entsprechend, zum Ort eines blutigen Endes, das wiederum noch lange auf den Bildschirmen nachflackert.
Diese Bildschirme, der gewollte mediale Overkill, sind Wohl und Wehe der neuen Zürcher Produktion. Sie intensivieren den Blick auf die Figuren, sie eröffnen ungewohnte Perspektiven und zeigen vor allem, buchstäblich unter dem Brennglas, mit welch immenser Innenspannung und körperlicher Hingabe die Mitwirkenden ihre Figuren mit Leben zu erfüllen versuchen. Dies ähnelt – durchaus im Sinne von Monteverdis frühmoderner Musiktheater-Ästhetik – über weite Strecken weniger einer Opern- als einer Schauspielaufführung; die Lautstärke der Bühnengeräusche, die mehr als einmal die Musik übertönen, allerdings auch.
Flach wie Bildschirme
Umso bedauerlicher, dass die von Bieito offenbar gezielt entfesselte Emotionalität letztlich ins Leere läuft. Die Kehrseite all der flackernden Close-ups, Stills und Slow-Motion-Projektionen ringsum ist nämlich, dass die Figuren selbst flach werden wie Bildschirme: weil unsere Aufmerksamkeit immer wieder von der eigentlichen szenischen Aktion ab- und unwillkürlich hingezogen wird zu den flimmernden Surrogaten über unseren Köpfen. Bieito mag dieses Aufmerksamkeitsdefizit im Sinne einer etwas zeitgeistigen Kritik am modernen Medienkonsum eingepreist haben; das szenische Dilemma aber bleibt.
Einzig die auch stimmlich überragende Delphine Galou als Neros Widersacher Ottone weiss mit den sie ständig umschwirrenden Kameras so virtuos zu spielen, dass sie den Blick auf ihre tragische Figur eher vertiefen. Galou wie auch Nahuel Di Pierro, dem als Seneca ein stimmiges Rollendebüt gelingt, haben obendrein den Mut, sich Zeit zu nehmen: Sie gestalten ihre Szenen nicht allein aus der intensiven schauspielerischen Geste, sondern auch aus musikalischen Nuancen heraus. Dies wünschte man dem merklich unter Überspannung stehenden Premierenabend im Ganzen, namentlich aber dem Nerone von David Hansen, der während der Proben an die Stelle von Valer Sabadus getreten ist. Hansen, szenisch ununterbrochen von starker Präsenz, setzt seine Stimme, einen etwas herben Countertenor, derart unter Druck, dass sie in der Extremhöhe schrill wird und jede Farbe verliert.
Eine Gegenstrategie zur allgemeinen Aufgeregtheit verfolgt Stéphanie d’Oustrac als verstossene Kaiserin Ottavia. Sie bewahrt ihrer jammervollen Rolle – auch durch einen profunden, warmen Stimmklang – etwas von der Würde, die in der immer enthemmteren Orgie aus Sex und Gewalt um sie her mit Füssen getreten wird. Julie Fuchs versucht sich als Poppea stimmlich wie darstellerisch immerhin an einer gewissen Ironisierung und Doppelbödigkeit ihres klischierten Rollenbildes, bleibt dabei aber noch zu brav. Unter den Comprimarii lassen Deanna Breiwick als unschuldige Drusilla, Thobela Ntshanyana mit einem betörend gesungenen Lucano – eine schwule Nebenbei-Affäre Neros – und nicht zuletzt Emiliano Gonzalez Toro aufhorchen, der Arnalta treffend als kriecherischen Karrieristen karikiert.
Musik contra Bühne?
Der Dirigent Ottavio Dantone tritt an diesem Abend ein übergrosses Erbe an: War es doch Nikolaus Harnoncourt, der im Verbund mit dem Regisseur Jean-Pierre Ponnelle Mitte der 1970er Jahre von Zürich aus die weltweite Renaissance der drei erhaltenen Monteverdi-Opern entscheidend vorangetrieben und bei so manchem Hörer für ein musikalisches Erweckungserlebnis gesorgt hat. Ein solches erlebt man jetzt bei Dantone nicht, wohl aber eine farbige, stellenweise originell orchestrierte Einrichtung der ohne Instrumentationsangaben überlieferten Partitur.
In der Tempogestaltung könnte Dantone dagegen noch stärkere Kontraste wagen, vor allem aber müsste er bei den im Sinne von Monteverdis «recitar cantando» betont frei geführten Sängern viel stärker darauf hinwirken, dass sie den Gesang dementsprechend auch als eigenständige – und ideell im Musiktheater mindestens gleichberechtigte – Ausdrucksform betrachten, damit die Musik neben der Bilderflut der Bühne eben nicht baden geht.