Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (18.10.2005)
Es ist eine Aufführung wie vor 40 Jahren, als hätte sich seither nichts bewegt: harmlos und voll muffiger Gediegenheit. Das Publikum reagierte mit Buh-Rufen auf die Premiere von Nicolas Joels «La Forza del destino» im Opernhaus.
So beliebt sie beim Opernpublikum ist, Verdis «Forza del destino» hat nicht unbedingt den besten Ruf. Von der Unwahrscheinlichkeit ihrer hirnrissigen Handlung sowie von anderen abstrusen Geschmacklosigkeiten im Libretto war immer schon die Rede. Genau wie Verdis «Trovatore» basiert auch die «Forza» auf einer Textvorlage aus der spanischen (Schauer-) Romantik und oszilliert zwischen frömmelndem Kirchenweihrauch und männerkräftigem Kriegsgetümmel in kruder Buntheit, wenn auch bilderstark.
Schwer verständlich jedenfalls, dass Verdi davon offensichtlich angetan war: «Das Drama ist gewaltig, einzigartig und sehr weiträumig. Es gefällt mir sehr.» Doch nach der Uraufführung 1862 in St. Petersburg schien er anderer Meinung zu sein: «Wir müssen eine Lösung finden, um zu viele Tode zu vermeiden», schrieb er seinem Librettisten Piave. Vier Tode waren es in der Erstfassung der Oper, zu viele, sodass Piave kurzerhand den letzten Toten ganz zum Schluss der Oper strich, will sagen: am Leben liess.
Zufall spielt Schicksal
Insgesamt ist das nicht überzeugender, aber was soll schon überzeugen in einem Plot, wo der Zufall blindwütig Schicksal spielt? Gerade dieser Aspekt scheint indes auf den Kern des Werks hinzudeuten: dass dort, wo die Menschen dem puren Zufall ausgeliefert sind, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin zu einer Massengesellschaft ansetzt, die keine unverwechselbaren Charaktere mehr kennt, sondern nur noch Typen, austauschbare Träger ebenso austauschbarer Gefühle.
Niemand in dieser Oper entwickelt sich, keiner wird älter, schon gar nicht reifer. Alle bleiben sie, was sie sind, besessen von ihren Obsessionen und Schuldgefühlen. Also ist es letztlich vielleicht gar nicht Zufall, dass sie sich stets wieder über den Weg laufen und sich Liebe, Tod oder Rache schwören, je nachdem? Zudem und à propos Zufall: Ist es am Ende nicht stets das Fälligste, was uns zufällt? Max Frisch hat das so formuliert, in seinem Tagebuch, und das liesse sich - als aktuelles Lebensgefühl aus heutiger Zeit - in einer heutigen Inszenierung durchaus mitdenken.
Nichts jedoch von solchen oder ähnlichen Überlegungen in der Neuinszenierung am Zürcher Opernhaus: Die Bühnenbilder von Ezio Frigerio schwanken unentschieden zwischen Andeutung und symbolischer Bedeutung, zwischen spanischer Schauerromantik und italienischem Risorgimento. Mal schwerlastige Bühnenbauten (vom Schnürboden herab dräuen herunterhängende Felswände), mal atmosphärisches Zitat, und oft erschöpfen sie sich im kunstgewerblichen Fragment.
In solcher Umgebung wirkt die Inszenierung von Nicolas Joel, als würde er das Stück vom Blatt lesen - den eh spärlichen Handlungsfäden entlang und also an der puren Oberfläche. Das kann in seiner altbackenen Harmlosigkeit auch ins Lächerliche umschlagen: wenn Preziosilla, die als Marketenderin letztlich auf sehr berechnende Weise Kriegsbegeisterung schüren sollte, ihre Hände derart «verführerisch» in die Hüften stützt, mit dem Rocksaum wedelt und auf einen Wirthaustisch (im dritten Akt auf eine Kanone) springt, als käme sie aus, einer Laienaufführung der «Carmen».
Überhaupt hat diese ganze Szene ungefähr den atmosphärischen Charme einer sonntagnachmittäglichen Verzehr-Einkehr in der Gartenwirtschaft. Andere Szenen wirken reichlich «gestellt», weil die Sänger vornehmlich herumstehen ohne nachfühlbaren Bezug zueinander und ohne spürbare innere Notwendigkeit, die sich als existenzielle Dimension dem Zuschauer mitteilen könnte. Die Aufführung ist über weite Strecken ein klirrendes Degen-und-Mantel-Stück aus längst vergangenen Zeiten.
Achtbares Rollendebüts
Zudem, so möchte man sagen, hat auch der Verdi-Gesang schon bessere Zeiten erlebt. Joanna Kozlowska gibt als Leonora zwar ein achtbares Rollendebüt, setzt ihren klaren Sopran aber zu oft unter Druck, was der Höhe nicht bekommt und der Tiefe hässliche Farben beimischt. Vincenzo La Scola debütiert ebenfalls in der Rolle des Don Alvaro, doch kann er kaum überzeugen. Zu eng klingt das Timbre, oft an der Schmerzgrenze zum Verhärten hin. Auch Leo Nucci, ein längst erfahrener Don Carlo, bleibt in dieser Aufführung merkwürdig blass. Kaum eine Spur von Belcanto- Linie in «Urna fatale», viele Phrasen wirken einseitig steifleinen. Sicher, da sind die hohen Top-Töne bis hinauf zum As, zum A, aber sie wirken mittlerweile wie losgelöst vom Rest - aufgesetzt eben. Matti Salminen gibt insgesamt einen würdigen Padre Guardiano, doch auch bei ihm ist zuweilen eine Tendenz zum Forcieren spürbar, die Vokalverfärbungen zur Folge hat.
Für den erkrankten Carlos Chausson übernahm Paolo Rumetz den Fra Melitone: mit überdrehter Allerweltskomik, aber stimmlich einigermassen sattelfest. Auch Stefania Kaluza singt die Preziosilla tadellos; und Martin Zysset gelingt in der kleinen Partie des Mastro Trabuco das kleine Kunststück, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Ein Sonderlob, und zwar ein grosses, gebührt dem Chor und Zusatzchor des Opernhauses; hier hat Jürg Hämmerli Einstudierungsarbeit geleistet, die einen Massstab setzt.
Nello Santi
Am Pult steht Nello Santi. Das garantiert für Partiturkenntnis und Wissen um die Aufführungspraxis, geschöpft aus Tradition und Erfahrung. Dass er die berühmte Ouvertüre erst vor dem zweiten Akt spielt statt zur Eröffnung der Oper, mag zwar mit einer (vergessenen?) Tradition zu tun haben und vor allem damit, dass sich das Orchester dann schon reichlich eingespielt hat. Dennoch, würden wir alle wichtige Musik erst dann spielen, wenn die Musiker sich warm genug fühlen, kämen wir wohl nie zu einem Anfang - und der Oper (dem ersten Akt) fehlt dieser Anfang doch schmerzlich.
Kein Zweifel aber, Maestro Santi ist als Verdi-Dirigent eine Offenbarung. Nicht nur gelingt es ihm mühelos, die musikdramatische Grossarchitektur des Werks immer wieder zu expressivem Blühen zu bringen. Sondern er formt zugleich das instrumentale, das emotionale Detail mit einem Maximum an Sorgfalt und sinnfälliger Transparenz. Hier, im Orchestergaben, kommt das Drama zu seinem Recht: Die Musik vibriert vor Spannung, und wo es die Partitur fordert, steigert Santi den Ausdruck bis zur aggressiven Vitalität. Das geht unmittelbar unter die Haut - aber leider nur das.