Sigfried Schibli, Basler Zeitung (25.09.2018)
Die expressionistische Oper «Die Gezeichneten» von Franz Schreker am Opernhaus Zürich
Franz wer? Nicht vielen Opernfreunden hierzulande dürfte der Name des österreichischen Komponisten Franz Schreker (1878–1934) etwas bedeuten. Schreker teilt das Schicksal von Alexander von Zemlinsky und Erich Wolfgang Korngold: Alle paar Jahre gibt es eine Renaissance auf den Opernbühnen, aber richtig angekommen ist der Komponist von «Der ferne Klang», «Irrelohe» und «Die Gezeichneten» nach dem Zweiten Weltkrieg nie. Ganz anders als in den Zehner- und Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als Schreker Sensationserfolge feierte und in einem Atemzug mit Richard Strauss genannt wurde.
Am Ende der Zürcher Premiere der «Gezeichneten» gab es frenetischen Beifall. Also doch wieder eine Schreker-Renaissance? Der Jubel galt wohl in erster Linie dem Philharmonia-Orchester und dem Dirigenten Vladimir Jurowski, die das Opernhaus mit ihrem vollen, geschärften Sound schier zum Einstürzen brachten. Laut bis zur Schmerzgrenze und gleichwohl adäquat, weil Schreker sängerfreundlich orchestriert hat und Jurowski das Orchester klug im Zaum hielt, als hätte er ein Mischpult mit Dynamik-Regler vor sich.
Stoff für Moraldebatten
Regisseur Barrie Kosky und Bühnenbildner Rufus Didwiszus haben sich elegant aus der Affäre gezogen. Im Stück geht es um die Liebe des verkrüppelten Genueser Herzogs Alviano Salvago, der mit seiner Clique als Mädchenmörder gilt und mit seiner Hässlichkeit das Interesse der Malerin Carlotta weckt. Bis diese mit dem Grafen Tamare einen anderen, äusserlich intakten Adligen vorzieht und ihr Modell Alviano wegwirft wie einen faulen Apfel. Seine Losung «Die Schönheit sei Beute des Starken» wird vom Rivalen Tamare adaptiert und auf seine Mühle gelenkt. Sie könnte heute, im Zeitalter allgegenwärtigen Schönheits- und Jugend-Kults, den Stoff für Moraldebatten abgeben.
Das Regieteam eliminiert alles, was schwül-erotisch oder kitschig wirken könnte. Die Wohnung Alvianos ist mit Gipsplastiken vollgestellt, die eher an ein Museum als an eine Lusthöhle erinnern. Zwischen Carlotta und Alviano entsteht keinerlei erotische Spannung – das Modell steht auf einem drehbaren Podest, während Carlotta, hier eine Bildhauerin und keine Malerin, sein Abbild mit blossen Händen aus einem Klumpen Lehm formt.
Wenn Schreker im dritten Akt einen «paradiesischen Garten» auf einer Insel vorsieht, die Alviano dem Genueser Volk schenkt, zeigt uns die Zürcher Produktion auf einem milchig-weissen Hintergrund im schwarzen Bühnenkasten nur Hände, die sich wie Adlerkrallen über Alviano zusammenkrümmen. Die Lustgrotte der Genueser Männer ähnelt einem aseptischen Operationssaal. Und während Alviano laut Libretto seinen Rivalen am Ende ersticht, beisst er ihn in der Zürcher Aufführung als Vampir in die Halsschlagader.
Der Tenor John Daszak singt die mörderische Partie des Alviano – hier nur an den Händen verstümmelt – mit unerhörter Kraft, selten intonationsgenau, stets druckvoll und mit Emotion gesättigt. Helden müssen nicht schön sein, Opernstimmen auch nicht. Catherine Naglestad setzt ihren grossen, Wagner-tauglichen Sopran gewinnend für die Partie der Carlotta ein, und Thomas Johannes Mayer als Tamare verkörpert textverständlich den agilen, ganz der erotischen Karriere dienenden Adligen. Die riesige Sängerbesetzung – man zählt nicht weniger als 17 Solisten auf der Bühne – wird vom Zürcher Opernhaus mühelos bewältigt.
«Regie führen ist die Kunst des Weglassens», erklärte einst die Regisseurin Ruth Berghaus. Ganz in diesem Sinn hat Barrie Kosky den Chor meist ins Off verbannt, sodass über weite Strecken der Eindruck eines Kammerspiels für zwei, drei Protagonisten aufkommt. Jeglicher Anklang an eine Grand Opéra mit Massenszenen und Kostümorgien wird vermieden. Dadurch entsteht eine Intensität, die dem Stück zwar Gewalt antut, ihm aber in der Wirkung hilft.