Sibylle Ehrismann, Aargauer Zeitung (25.09.2018)
Das Seelendrama «Die Gezeichneten» am Opernhaus geht unter der Regie von Barrie Kosky erst recht unter die Haut
Schönheit wird in der Kunst meist mit der Frau verbunden, viele griechische Statuen zeugen jedoch auch von der einstigen Idealisierung des männlichen Körpers. Noch seltener ist es, dass ein Mann auf der Bühne wegen seiner Hässlichkeit leidet, obwohl er reich ist und Macht hat. Franz Schrekers Oper «Die Gezeichneten» thematisiert das Drama des hässlichen Mannes, das Libretto schrieb er eigentlich für seinen kleinwüchsigen Freund Zemlinsky, der damit seine unglückliche Liebe zu Alma Mahler verarbeiten wollte.
Schreker faszinierte das Thema jedoch so sehr, dass er «Die Gezeichneten» 1918 selber vertonte. Sein Libretto ist sehr schwülstig, oft wird in Traumbildern gesprochen, es geht ja auch
um die «dunklen Pfade der Seele». Wir befinden uns in der Zeit von Sigmund Freuds Analyse der Seele und der Libido. Die Oper handelt vom verkrüppelten Edelmann Alviano Salvago, der in Genua ein «Elysium» erbauen liess – seinen Traum von Schönheit und Glück – und sich voller Selbstzweifel in die Malerin Carlotta verliebt, die ihn jedoch nur als Modell «benutzt». Darob wird Alviano wahnsinnig.
Zwischen Ideal und Wirklichkeit
Barry Kosky und sein Bühnenbildner Rufus Didwiszus lassen dieses Seelendrama, das sich hoch dramatisch in der Musik entwickelt, im Opernhaus Zürich in einem kargen, kühl-grauen Raum abspielen. Zahlreiche griechische Statuen, viele davon beschädigt, stehen auf Sockeln herum, und werden je nach Szene anders gruppiert. Sie prägen den Spielraum und werden von den Sängern umarmt, gestreichelt und besungen. Auch die Malerin Carlotta, die mit ihrem Vater, dem Podestà der Stadt Genua (Albert Pesendorfer), das Elysium von Alviano besucht, bewundert mit ihren Händen und Blicken die herrlichen Statuen.
Regisseur Kosky entfaltet aus diesem Widerspiel zwischen Statuen und Sängern ein sinnfälliges Schwanken zwischen Ideal und Wirklichkeit. Dabei offenbart sich seine Musikalität in einem ganz aus dem musikalischen Geschehen entwickelten Bewegungsablauf. Auch die vielen adligen Freunde Alvianos, die im Untergrund seines Elysiums wilde Orgien feiern, sind hinter den Statuen versteckt und tauchen von dort auf, um Alviano davon abzubringen, das «Elysium» und damit ihre Lusthöhle an die Stadt zu verschenken.
Entkleidet und beschmiert
Diese Adligen-Gruppe fordert eine grosse Anzahl kleiner Männerrollen, was für jedes Opernhaus eine besetzungstechnische Herausforderung ist. In Zürich ergaben sich daraus interessante stimmliche Facetten. Einer von ihnen ist der «schöne» Tamare, den Carlotta schliesslich auserwählt und damit Alviano in den Wahnsinn treibt. Thomas Johannes Mayer überzeugt als Tamare mit Schalk und agiler Stimme.
Alle Adligen tragen moderne Anzüge aus edlem, glänzendem Stoff, auch Alviano (Kostüme Klaus Bruns). Zum Schluss wird er, wahnsinnig geworden, entkleidet und mit Lehm beschmiert, so dreht er sich, zur Statue geworden, auf dem Sockel verloren um sich selbst – ein grossartiges Schlussbild.
Kosky und Jurowski haben sich entschieden, für die Zürcher Produktion einige Streichungen vorzunehmen, was die Dramatik und die Dichte des Geschehens noch intensiviert. So fokussierte sich alles auf den missgestalteten Alviano, der fast ununterbrochen auf der Bühne steht. John Daszak meisterte diese anspruchsvolle hohe Tenorpartie mit Bravour. Seine klare, auch in den Ausbrüchen sicher intonierte Tenorstimme drang problemlos durch den grossbesetzten Orchesterapparat durch, und auch das Schwanken zwischen Verzweiflung und Resignation gestaltete er sehr authentisch.
Die Carlotta ist insofern eine spannende Frauenfigur, weil es hier für einmal die Künstlerin ist, die den Blick auf ihr männliches Modell und dessen Seele wirft – und nicht umgekehrt. Die Sopranistin Catherine Naglestad hat die Rolle erst kürzlich an der Bayerischen Staatsoper München gesungen. Naglestad hat die nötige Kraft und Eleganz in der Stimme, um das Schwanken zwischen emotionalem Ausbruch und weiblicher Schmeichelei sinnfällig zu vermitteln. Grandios ihr Monolog im Atelier, in dem sie von ihrer (fiktiven) Künstlerfreundin erzählt, die nur Hände modelliert – Alviano hat keine Hände mehr. Morbide und erschütternd.
Melodische Schönheit
Das Orchester ist riesig besetzt. Die Harfen dominieren, und die verschiedenen instrumentalen Farben werden zu magischen, ja sehnsuchtsvollen Harmonien. Schreker ist ein Klangzauberer, und dennoch erfindet er auch unerhörte Melodien. Ob im Orchester oder bei den Sängern, man ist gebannt von der melodischen Schönheit und der dramaturgischen Kraft dieser raffinierten Musik.
Vladimir Jurowski ist es gelungen, die Wucht klar zu disponieren, anschmiegsame Melodien der Holzbläser aufblühen zu lassen und die Klangfarben genussvoll auszubreiten. Zwischendurch geriet das Ganze etwas gar laut, die beiden Protagonisten waren hoch expressiv gefordert. Sicher, «Die Gezeichneten» ist kein Stück für schwache Nerven, man muss schon etwas aushalten. In Zürich ist das packend gemacht, das Publikum, das auch nach der Pause noch geblieben ist, war begeistert.