Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (25.09.2018)
Das Opernhaus Zürich zeigt Franz Schrekers «Die Gezeichneten» als lange unterkühlten und schliesslich ziemlich pessimistischen Schocker über das Leben und die Kunst.
Erst sammelt er Kunst, dann wird er Kunst. Und in beiden Rollen bleibt er Aussenseiter. Sein Reichtum und sein Kunstsinn nützen Alviano Salvago in Franz Schrekers Oper «Die Gezeichneten» nichts. Erst verzichtet er darauf, seine Wunderinsel «Elysium», die er erlesenst aufgebaut und ausstaffiert hat, zu betreten: Er als hässlicher Krüppel würde da nicht hinpassen. Daraufhin nutzen sie die Adligen als geheimes Refugium ihrer Orgien, zu denen sie Frauen entführen.
Dann verliebt sich die Künstlerin Carlotta in ihn und macht ihn zum Kunstobjekt. Damit ist er verbraucht und sie schwenkt über zum männlichen, zupackenden Tamare. Oder meint Alviano das nur? In Barrie Koskys neuen Zürcher Inszenierung scheint in den ersten beiden Akten alles ziemlich klar – so schnörkellos (und etwas brav) wie Rufus Diwiszus’ Bühne: Ein grauer, quadratischer Raum. Allerdings voller Skulpturen auf drehenden Podesten: Alvianos Palast, wo zwischen antiken Torsi und erotischen Marmor-Paaren über die Orgien-Insel verhandelt wird und Carlotta (packend aus dem Text und mit toller Pianokultur: Catherine Naglestad) sich in Alviano oder in seine Armstümpfe verliebt.
Lange vorbereiteter Albtraum
Die Inszenierung am Opernhaus kürzt die Partitur um etwa eine Stunde und sie macht aus dem hässlichen, buckligen Protagonisten einen handlosen Glatzkopf. John Daszak gestaltet ihn ungeheuer plastisch und mit fantastischer Textverständlichkeit, vor allem aber mit grosser szenischer Wucht – auch wenn er nur noch in Unterhosen und verschmiert von Lehm und Blut singen muss. Schwierig nur sein Stimmfach: Mehr Helden- statt Charaktertenor gäbe der Figur noch mehr Fallhöhe. Diese bereitet die Inszenierung etwas lange vor. Die adligen Wüstlinge wuseln zu laut durch den ersten Akt, die zentrale Kunst- und Liebesszene erschreckt mit stummfilmartigen Handprotesten – Nosferatu lässt grüssen –, und lange drehen einfach die Podeste, als wäre die Musik etwas zu lang.
Nach der Pause dreht nur noch eines. Alviano steht auf dem Sockel, nun in ganz schwarzem Bühnenkasten vor diffusem Spiegel-Nebel-Hintergrund. Lemuren ziehen da vorbei, der Chor beklatscht Alviano wie ein Vernissagen-Objekt. Bildet er sich das nur ein? War die Liebe doch «nur» Inspiration fürs Kunstwerk? Hier wird die Inszenierung doppelbödig, ja bedrohlich, sie bekommt jene psychologische Tiefe, die die Musik suggeriert. Alviano wird auf sich selber zurückgeworfen.
Thomas J. Meyer gibt Tamare mit zynischer Herrenmenschenattitüde. Als ihn Alviano totbeisst, verschwindet der einfach, so wie plötzlich ein Showman Alviano festnimmt oder ein Carlotta-Gespenst vorbeizieht. Ist Kunst der Ausweg aus der persönlichen Krise? Was Schreker 1914 an menschlichen Abgründen und Psychologie in sein Werk komponierte, kann heute noch erschrecken – gerade wenn das orchestral so sinnlich und opulent, gleichzeitig aber auch die Modernität so hörbar machend interpretiert wird, wie vom Zürich-Debütanten Vladimir Jurowski am Pult. So kann die Musik absolut süchtig machen, die Inszenierung gibt genug zu denken dabei.