Elisabeth Richter, Deutschlandfunk (24.09.2018)
Franz Schrekers hochromantische Oper "Die Gezeichneten" wurde 1918 uraufgeführt. Sie handelt von überquellenden Sehnsüchten und verborgenen Abgründen. Barrie Kosky setzt in Zürich der ausladenden Musik eine zurückgenommene Inszenierung entgegen: Seine "Gezeichneten" spielen in einer Glyptothek.
Aus Sehnsucht nach der vollkommenen Schönheit hat sich Alviano ein Elysium geschaffen, doch er betritt es nicht. Denn er ist selbst hässlich, ein Krüppel. Und Alviano will nicht wissen, dass dort die feine adlige genuesische Herrengesellschaft es munter treibt, die schönsten Jungfrauen verführt und schändet. Aus schlechtem Gewissen möchte Alviano sein Elysium der Stadt schenken und provoziert natürlich damit den Widerstand der lustgeilen Adligen. Das ist die eine Sache, sie geht schief. Die andere ist, dass Alviano von seiner Geliebten, der Künstlerin Carlotta verlassen wird und sich dem Anführer der Lustgesellschaft zuwendet. Er endet im Wahn.
"Es könnte damit zusammenhängen, dass dieses Stück wie eine Droge wirkt, was etwas ist, was mit unserer heutigen Zeit auch sehr verbunden ist. Es gibt dieses apokalyptische Element, was ganz stark zu erkennen ist in diesem Werk, was vielleicht auch so eine Stimmung widerspiegelt, die wir heute auch vermehrt verspüren."
Aktuelle Faszination für Schrekers Oper
Hier sieht Kathrin Brunner, die Dramaturgin der Zürcher Neu-Produktion von Franz Schrekers "Die Gezeichneten", einen Grund für die aktuelle Faszination für Schrekers Oper: "Dieses Wühlen im Schmerz, auch im Selbsthass, gerade was unsere Hauptfigur Alviano angeht, der einen missgestalteten Körper hat, an dem er zu tragen hat, zumindest rein äußerlich, das ist ein großes Thema. Schmerz und Selbsthass, das spürt man in dieser Musik, die so merkwürdig verspannt auch ist manchmal."
1913 komponiert und im April 1918, noch während des Ersten Weltkrieges in Frankfurt uraufgeführt, hat Schreker in seinen "Gezeichneten" kunst- und zeitgeschichtliche, literarische wie psychoanalytische Aspekte eingearbeitet: Sigmund Freud, Nietzsche, Oscar Wilde, de Sade oder Wedekind standen Pate für sein eigenes Libretto. Text und Musik sind ein einziges Dokument überquellender Sehnsüchte, verborgener Seelenabgründe. Und das Elysium des Protagonisten Alviano ist eigentlich der Ort, wo Entgrenzungen jeglicher Art stattfinden. Eigentlich! Denn davon ist in der Inszenierung von Barrie Kosky wenig zu sehen. Dramaturgin Kathrin Brunner:
"Das Zurücknehmen ist eine große Strategie von dieser Aufführung eigentlich, Barrie Kosky und Rufus D, sein Bühnenbildner haben einen Raum geschaffen, der sehr kühl, unterkühlt ist. Mehrere Räume, es ist nicht nur ein Raum, in den gewissermaßen dieses ganze Schwülstige, diese blumige Musik, dieses Überinstrumentierte wirklich ungehindert fließen kann."
Koskys "Gezeichnete" spielen in einer Glyptothek
Eine Art "ständiges Zuviel" kennzeichnet Schrekers Musik. Und dies nicht in Bühnenbild und Regie zu doppeln ist durchaus klug. Doch blendet Barrie Kosky die erotischen Aspekte ein wenig zu stark aus. Seine "Gezeichneten" spielen in einer Glyptothek, einer Sammlung weißer Renaissance-Skulpturen, die Wände und Sockel sind grau, Alviano selbst scheint eine Skulptur zu sein, mit seinem weißen Hemd und grauer Hose. Während des Vorspiels ist nur eine einzige Skulptur zu sehen, und ganz am Ende steht Alviano selbst erstarrt in der Pose einer Skulptur einsam in seinem Wahn auf der Bühne.
Während man bei früheren Inszenierungen - von Hans Neuenfels oder Martin Kusej etwa - Sadomaso und Massensex sehen konnte, findet bei Kosky in dieser Richtung rein gar nichts statt. Der Männerchor läuft zwar zuhauf auf die Bühne, ist aber in steril wirkenden Anzügen merkwürdig statisch, an Erotik denkt man dabei nicht.
Eine Frau als Protagonistin
Auch der weiblichen Hauptfigur Carlotta - der Malerin und Bildhauerin, die den bei Barrie Kosky durch zwei Armstümpfe missgestalteten Alviano als Muse missbraucht, Mitleid für seinen Schmerz vorgibt, aber damit ihren eigenen verdrängt. Carlotta hat Kosky fast jegliche Sinnlichkeit genommen. Sie steckt in ihrem Atelier in wallenden Arbeitskleidern, später in einem grünen Chiffon-Kleid. Hier hätte man sich einfach mehr Profil gewünscht. Denn dass Schreker als Mann eine Frau als Protagonistin in einer Oper etabliert, die als Künstlerin ihre Obsessionen auslebt, ist 1918 einzigartig und revolutionär. weder Richard Strauss noch Zemlinsky oder andere taten dies.
In der zentralen Szene des Werkes steht Alviano Carlotta Modell. Sie hat für ihn Hände geformt, die sie seinen Armstümpfen aufsetzt. Dies wiederum löst bei Alviano einen unermesslichen Schmerz aus, den er kaum ertragen kann. Gespenstisch als Schatten - man denkt unwillkürlich an Nosferatu - werden die übergroßen Hände an den kahlen Wänden sichtbar. Eine der stärksten Szenen.
Hervorragendes Sänger-Ensemble
Musikalisch und sängerisch ist die Zürcher Produktion im Ganzen stimmiger und überzeugender als der szenische Zugang. Sowohl der britische Tenor John Daszak als Alviano als auch die amerikanische Sopranistin Catherine Naglestad als Carlotta setzten ihre hochdramatischen Partien souverän um. Auch die etwas kleineren Partien waren hervorragend besetzt, etwa der Liebhaber Tamare mit dem Bariton Thomas Johannes Mayer oder der Capitaneo di Giustizia mit dem Bariton Christopher Purves.
Hocheindrücklich war wie Dirigent Vladimir Jurowski am Pult der Philharmonia Zürich die schillernde Farbigkeit von Schrekers Partitur zum Leuchten brachte, die gewaltigen, so erhitzten Klangwogen bändigte und exzellent dynamisch balancierte und damit das hervorragende Sänger-Ensemble niemals zudeckte.