Liebe ist auch bloss eine grosse Inszenierung

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (06.11.2018)

Così fan tutte, 04.11.2018, Zürich

Kirill Serebrennikows brillante «Così fan tutte» an der Oper Zürich

Dem inhaftierten Kirill Serebrennikow und seinem Co-Regisseur Jewgeni Kulagin gelingt am Opernhaus Zürich eine geistreiche Neuproduktion von Mozarts «Così fan tutte». Ein eindrucksvoller Akt des Widerstands – und noch weit mehr.

Mit der Politik hat er es nicht so. Jedenfalls, wenn es um die Tagespolitik mit ihren oft zeitgeistgetriebenen Themen geht. Sie ungefiltert auf die Bühne zu bringen, führe künstlerisch in der Regel nicht sehr weit, erklärte Zürichs Opernhaus-Intendant Andreas Homoki unlängst im NZZ-Gespräch. Wider Willen hat Homoki nun aber doch ein bisschen mitgespielt im Konzert der grossen Politik – denn was am Sonntag auf der Bühne der Zürcher Oper vor sich ging, dürfte man sogar im fernen Moskau mit Argwohn zur Kenntnis genommen haben.

Homoki nämlich setzte mit viel persönlichem Engagement durch, dass der Regisseur Kirill Serebrennikow eine seit 2016 geplante Neuinszenierung von Mozarts «Così fan tutte» in Zürich realisieren konnte, obschon Serebrennikow im August 2017 in Russland inhaftiert wurde und seither im Hausarrest sitzt. Diese Machtdemonstration des Kremls, wohl als Abschreckung für die aufbegehrende Kulturszene gedacht, führt international seit gut einem Jahr zu Solidaritätsbekundungen, meist unter dem Hashtag #FreeKirill. Die Zürcher Premiere sendet freilich ein noch stärkeres Signal.

Achtung, Nebenbuhler

Dass sich die Kunst nicht so leicht unter die Knute von Willkürherrschern jeglicher Couleur zwingen lassen will, ist das eine. Dass sie im Kampf um die Freiheit gleichwohl Kunst bleibt und nicht herabsinkt auf das Niveau von Agitation und Gegenpropaganda, bedeutet eine kaum geringere Herausforderung. Doch genau diese Balance gelingt jetzt am Opernhaus, allen Widrigkeiten zum Trotz. Dieser Mozart-Abend ist ein eindrucksvoller Akt des Widerstands, keine Frage; zugleich aber ist er leicht, manchmal komödiantisch überzeichnet, aber nie oberflächlich; er hat Witz, ein fast bruchlos durchgehaltenes Tempo und wird bei allen – mitunter auch plakativ-zeitgeistigen – Zuspitzungen doch grundiert durch eine tiefere Melancholie.

Das hat erstaunlich viel mit der aus den Fugen gehenden Rokoko-Welt des späten Mozart zu tun, und es findet, wie nebenbei, eine furiose Lösung für die dramaturgischen Probleme dieser dritten und letzten Da-Ponte-Oper. Deren virtuoses Spiel mit dem Wankelmut der Gefühle war im 19. Jahrhundert ein Stein des Anstosses – namentlich Beethoven erregte sich über den moralischen Missgriff Mozarts, seines Idols. Im späten 20. Jahrhundert begann man im Gegenzug gerade die in diesem amourösen Qui pro quo so subversiv gefeierte Libertinage zu schätzen, tat sich aber zunehmend schwer mit der epochentypischen Verkleidungs- und Verwechslungskomödie. Serebrennikow und sein künstlerischer Partner Jewgeni Kulagin, der das gemeinsam erarbeitete Regiekonzept wegen der erzwungenen Abwesenheit Serebrennikows in Zürich als Co-Regisseur auf die Bühne gebracht hat, ändern da Pontes Handlungsgefüge nun an einem zentralen Punkt, mit weitreichenden Folgen.

Aus der von Anfang an fragwürdigen Spielerei mit der Liebe und Treue der beiden Frauen Fiordiligi und Dorabella wird bei ihnen nicht erst im zweiten Aufzug bitterer Ernst; Serebrennikow und Kulagin deuten vielmehr an, dass bereits die laut Libretto bloss fingierte Einberufung ihrer Liebhaber Ferrando und Guglielmo unversehens zum Ernstfall werden könnte: Heldentod, Staatsbegräbnis und finale Urnenübergabe inklusive. Bei all dem Pomp – samt bombastischen Grabgestecken und einem schaurig-schönen «Soave sia il vento»-Terzetto zur Kremation der beiden Särge – bleibt dennoch in der Schwebe, ob es sich hierbei lediglich um eine Angstvision der Liebenden handelt oder um die traurige Realität.

Fest steht nur: Von nun an begegnen die Frauen zwei anderen Männern, stummen Tänzer-Rollen, die auf die Namen Sempronio (Francesco Guglielmino) und Tizio (David Schwindling) getauft wurden. Ihre Funktion im Geschehen ist so schillernd wie ihr fremdländisches Aussehen («Turchi? Valacchi?»). Zunächst sind sie blosse Wiedergänger von Ferrando und Guglielmo, die im Hintergrund – als Geister? – die Strippen ziehen und ihren lebenden Marionetten, wo nötig, die Stimme leihen.

Dann jedoch verselbständigen sich die beiden Doubles, werden mehr und mehr zu echten Nebenbuhlern. Und so müssen bald nicht mehr nur die beiden Frauen, von der Regie mit Lust am Klischee als kreuzbrave Shopping-Queens gezeichnet, mit der Verwirrung ihrer Gefühle klarkommen; auch die Männer selbst, anfangs zwei ausgemachte Fitnessstudio-Nerds mit mehr Muckimasse als Hirn, bekommen schmerzvoll vor Augen geführt, wie zynisch das Spiel ist, das sie da mit ihren Partnerinnen treiben. Irgendwann läuft die Sache völlig aus dem Ruder, der Hedonist Don Alfonso (mit herrlich zwielichtiger Präsenz: Michael Nagy), der das Ganze ins Rollen gebracht hat, sucht Trost im Alkohol, und auch die Regie bekommt die vielen losen Fäden nicht mehr recht verknotet.

Reifungsprozess

In der Not interpoliert man flugs ein Stück aus Don Giovannis Höllenfahrt, lässt die beiden Gatten Komtur-gleich über die untreuen Gattinnen kommen, gewinnt durch diesen Stilbruch aber auch nicht mehr als die uralte Erkenntnis, dass der Titel der Oper wohl besser «Così fan tutti» hiesse. Das ist ein bisschen platt und zu wenig für diesen sonst so erhellenden Abend und kann hoffentlich eines Tages von Serebrennikow nachjustiert werden.

Auch die sängerische Seite der Aufführung muss noch etwas reifen: Den bereits jetzt überragenden Tenor Frédéric Antoun (Ferrando) ausgenommen, bilden Ruzan Mantashyan (Fiordiligi), Anna Goryachova (Dorabella) und Andrei Bondarenko (Guglielmo) zwar ein wunderbar harmonierendes, spielfreudiges Ensemble; ihren Solonummern fehlt es dagegen, vor allem im ersten Akt, an dynamischer und vokaler Feinzeichnung, um auf dem Spitzenniveau heutigen Mozart-Gesangs mitzuhalten.

Nicht zuletzt scheint auch Cornelius Meister, der neue Stuttgarter Generalmusikdirektor, noch auf der Suche zu sein nach einer durchwegs stimmigen Lesart: Da wechseln artikulatorisch im Sinne der historischen Aufführungspraxis geschärfte Momente mit weniger inspirierten Passagen, in denen die Spannung gefährlich durchhinge, sorgte nicht Andrea del Bianco mit originellen Continuo-Interventionen immer wieder für Impulse. Gleichwohl trifft Meister traumwandlerisch den ebenfalls tief melancholisch grundierten Notturno-Ton des späten Mozart, besonders schön in den berühmten «falschen» Liebesduetten des zweiten Aktes, die eigentlich den «richtigen» Geliebten gelten. Hier sind sie – tragisch und komisch zugleich – nichts weiter als eben: eine Inszenierung. Aber was für eine!