Willkommen im 21. Jahrhundert

Anna Kardos, Aargauer Zeitung (06.11.2018)

Così fan tutte, 04.11.2018, Zürich

Kirill Serebrennikov gelingt aus dem Moskauer Hausarrest ein Opernereignis

Liebe ist… ein Verlobter vom Typ Antonio Banderas; 200 Likes für den neuen Haircut – darunter jener von ihm, und sich auf dem Stepper zu romantischen Sounds von Mozart auspowern. So zumindest sehen es Fiordiligi und Dorabella in Mozarts Oper «Così fan tutte». Kaum jemand ist so glücklich verlobt wie sie. Und kaum eine andere Opern-Inszenierung so zeitgeistig wie die von Kirill Serebrennikov. Da werden Selfies geschossen, Shisha geraucht und zwei junge Frauen mit zwei Avataren verführt. Willkommen im 21. Jahrhundert, Wolfgang!

Dabei sitzt Kirill Serebrennikov in Moskau seit 15 Monaten ohne Internet und Telefon unter Hausarrest, weil der russische Regisseur angeblich Staatssubventionen unterschlagen habe. Die Inszenierungsarbeit musste im Ausnahmezustand mittels Videobotschaften erfolgen, übermittelt via Anwalt und umgesetzt durch Serebrennikovs Assistenten Evgeny Kulagin. Aber vielleicht erfordern aussergewöhnliche Umstände nicht nur aussergewöhnliche Taten, sondern bringen auch aussergewöhnliche Ergebnisse hervor. Nicht zufällig soll Serebrennikov auf einem der Videos gewitzelt haben, er sei so gut vorbereitet wie nie, schliesslich habe er gerade sehr viel Zeit.

Mit schierer Schönheit

War es die viele Zeit, Serebrennikovs Ausnahmezustand oder die emotionale Beteiligung aller Mitwirkender? Denn: Die Inszenierung ist schlicht grossartig. Man könnte das gesamte Abc an positiven Ausdrücken abspulen; unter jedem Buchstaben fände sich ein Qualitätsmerkmal – von a wie aktuell, b wie bahnbrechend, c wie cool, und so weiter. Und all das so unverkrampft und leichtfüssig, als wäre Mozart nicht eines der grössten Genies der Musikgeschichte, sondern der Typ von nebenan, dessen Songs eben mal den Weg in die Kehlen dieser Protagonisten finden.

Und wie sie das tun! Mit samtenem Timbre und schierer Schönheit singt sich Armenierin Ruzhan Mantashyan durch die emotionalen Ups and Downs ihrer Fiordiligi. Als ihre Schwester Dorabella lässt Anna Goryachova ungleich dramatischere Farben hören – und sehen: Ihr hysterischer Anfall ist grosses Kino (nicht zufällig ist Serebrennikov auch Filmregisseur). Der Verlobte Frédéric Antoun ist ein tenoral strahlender Ferrando mit kammermusikalischen Qualitäten. Und Andrei Bondarenko steuert als Guglielmo die warmen und sensiblen Seiten der Liebe dazu. Rebeca Olveras Despina ist vielleicht eine Spur zu zurückhaltend. Dafür gibt Michael Nagy den Don Alfonso mit viel Charakter sowie gestalterischer Klugheit. Und unter der Leitung des Dirigenten Cornelius Meister kann auch die Philharmonia Zürich mit den Sängern enge Beziehungen eingehen – sie werden angesichts der amourösen Ränke die beständigsten Beziehungen des Abends sein.

Aber zurück zur Handlung. Denn es hat tatsächlich den Anschein einer Laborsituation, durch die Mozart seine Protagonisten hier jagt: Die Frauen sind Schwestern, in Frisur, Empfinden und Treueschwüren zum Verwechseln ähnlich. Auch die Männer sind in Sachen Freundschaft, Fun und Fitnessbegeisterung auf gleicher Wellenlänge. Symmetrie also, wohin das Auge blickt und das Ohr hört. Genauso reduziert und geometrisch ist auch das Interieur auf der Bühne (Bühnenbild: Kirill Serebrennikov). Bis sich alle Symmetrie quasi an der Achse des Bösen spiegelt – verkörpert vom trinkfreudigen Philosophen Don Alfonso, der mit den Männern auf die Untreue ihrer Frauen wettet. Die Partnerin des jeweils anderen soll in Verkleidung (hier inszeniert als zwei Avatare) verführt werden. Gesagt, getan – gelungen. Und hätte man es nicht mit Mozart als einem der liebevollsten Menschenkennern unter den Komponisten zu tun, die Sache würde im Trümmerhaufen zweier Beziehungen enden.

Subtext zu weit mehr?

Eine Ahnung davon vermittelt die eingeschobene Schicksalsmelodie aus «Don Giovanni», die mitten im Liebestreiben plötzlich einen Abgrund aufreisst. Steht er tatsächlich nur für den Fehltritt der Frauen? Oder ist er im Kontext der ungewöhnlichen Entstehung dieses Abends Subtext zu weit mehr? Das weiss nur Kirill Serebrennikov. Und der löst mithilfe Mozartscher Leichtigkeit bereits Liebesknoten, Rachegedanken und Gewissensbisse wieder in Wohlgefallen auf.