Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (06.11.2018)
Vor der Zürcher Premiere von Mozarts «Così fan tutte» ging es vor allem um den Hausarrest von Kirill Serebrennikov. Nun darf man seine Inszenierung feiern.
Der letzte Kostümwechsel war ein politischer: «Free Kirill» stand auf den weissen T-Shirts, mit dem die Sänger und Kirill Serebrennikovs Regiemitarbeiter den verdienten Applaus empfingen. Sie holten den Regisseur, der seit Sommer 2017 in Moskau im Hausarrest sitzt und die Proben nur mit Videobotschaften begleiten konnte, damit doch noch auf die Bühne. Und dank Fernseh-Kameras in eine breitere Öffentlichkeit: Wohl noch nie hat eine Zürcher Opernpremiere so viel internationale Aufmerksamkeit erhalten wie diese.
Aber wie war sie denn nun, diese Premiere? Die Antwort fällt leicht: Grossartig war sie. Sehr lustig. Hoch musikalisch. Ziemlich bitter. Und nein, es geht nicht um den «Fall Serebrennikov» darin. Es ist eine ganz normale «Così fan tutte», oder sagen wir: eine fast normale.
Sie beginnt in einem Fitnessstudio, das Serebrennikov (der auch sein eigener Bühnen- und Kostümbildner ist) auf zwei Ebenen angesiedelt hat. Oben walken die Frauen, unten schwitzen die Männer. Manchmal schicken sie sich ein Selfie – man hört es ankommen, mitten in Mozarts Musik. Aber nur ein einziges Mal; Serebrennikov hat ein gutes Gespür für Gags, die sich als Running Gags eignen würden, aber noch viel besser sind, weil sie es dann doch nicht werden.
Triumph und Verzweiflung
Er hat auch ein gutes Gespür für eine Geschichte, die vielen Regisseuren Bauchschmerzen bereitet. Dass die Männer sich eine Intrige ausdenken, um die Treue ihrer Frauen zu testen, lässt sich ja noch leicht inszenieren. Aber wie geht man damit um, dass diese Männer verkleidet zurückkommen – und die Frauen nicht merken, wen sie vor sich haben? Hier wird das Problem nun so schlicht wie ungewöhnlich gelöst: Es sind eben nicht die verkleideten Verlobten, die zurückkehren. Sondern ihre Kumpels aus dem Fitnessstudio.
Singen tun allerdings nach wie vor Guglielmo und Ferrando, und das funktioniert bestens. All die Kommentare, die sie sonst beiseite flüstern müssen, machen sie nun als Beobachter von aussen. Ungebremst können sie triumphieren, solange die Frauen brav sind, und verzweifeln, sobald sie schwach werden. Und wenn die Arie «Un’aura amorosa», die Ferrando im oberen Stock singt, bei den Frauen unten aus dem Radio kommt (inklusive Don Alfonsos Ansage «Sie hörten aus Mozarts Oper ‹Così fan tutte› ...»), dann ist auch das einer jener punktgenau platzierten Serebrennikov-Gags.
«My Pussy, my Rules»
Vor allem aber verschärfen die gespaltenen Männerpartien die Intrige: Denn die stummen Verführer wirken weit brutaler, als es die verkleideten Verlobten könnten. Sie überlassen die ganze Verführungsrhetorik den Stimmen aus dem Off. Nehmen, was sie wollen. Und verschwinden wortlos unter der Dusche, sobald sie es bekommen haben. Auch wenn Serebrennikov die Geschichte genau so erzählt, wie Mozart es vorgesehen hat: Er tut es mit einer Härte, die selbst in #MeToo-Zeiten auffällt.
Es ist eine Männerwelt, in der diese Geschichte spielt. Selbst Despina (Rebeca Olvera), die Dienerin von Dorabella und Fiordiligi, hat sich diese Perspektive und den entsprechenden Hosenanzug zu eigen gemacht. «My Pussy, my Rules» steht zwar in einer der wirklich grandiosen Videoshows, mit denen sie ihren Herrinnen auf die Sprünge helfen will. Aber auch das heisst letztlich nur, dass sie sich doch bitte nicht so anstellen sollen.
Wie sie sich anstellen, diese beiden Frauen: Das ist das Highlight dieser Aufführung. Anna Goryachova gibt die Dorabella als Dramaqueen, die überaus effektvoll leidet auf der Designerliege und ihren voluminösen Mezzosopran nahtlos vom Singen ins Heulen kippen lässt, als ihr Ferrando in den Krieg zieht. Ruzan Mantashyans Fiordiligi ist da zurückhaltender, zerrissener, aber genauso lebendig.
Raum für offene Fragen
Hier muss nun Evgeni Kulagin ins Spiel kommen, der als Choreograf von Anfang an beteiligt war an dieser Inszenierung und an Serebrennikovs Stelle die Proben geleitet hat. Er hat dabei nicht nur ein Konzept umgesetzt, sondern dafür gesorgt, dass die Sängerinnen sich wohl und frei fühlen damit – selbst wenn sie nur Dessous tragen. Auch die Sänger (Andrei Bondarenko als Guglielmo, Frédéric Antoun als Ferrando und Michael Nagy als Don Alfonso) wirken auf sehr persönliche Weise mies.
Unterstützt werden sie vom Dirigenten Cornelius Meister und einer prägnant gestaltenden Philharmonia. Die Tempi, die Dynamik, das Zitat aus Mozarts «Don Giovanni» – alles passt. Und es lässt Raum für Slapstick und Drama, für starke Stimmen und offene Fragen. Etwa für diese: Wie lange dauert es, bis jemand vergessen wird, wenn er nicht mehr da ist? In dieser «Così» nicht lang; die Porträts der Verlobten verschwimmen und verblassen jedenfalls rasch.
Da denkt man dann plötzlich doch an den «Fall Serebrennikov». Der Regisseur soll nicht vergessen werden, dafür sorgen seine Mitarbeiter und ein solidarischer Kulturbetrieb. Wenn im Januar in Hamburg die Proben für seine «Nabucco»-Inszenierung beginnen, wird Evgeni Kulagin dort sein. Und Serebrennikovs Anwalt wird einmal mehr Probenvideos in den Moskauer Hausarrest übermitteln.