Tobias Gerosa, Neue Zürcher Zeitung (20.11.2018)
«Hänsel und Gretel» am Opernhaus
Das Opernhaus Zürich mutet dem jungen Publikum bei Humperdincks «Hänsel und Gretel» einiges zu: Armut, Drogen und Konsumkritik sind in dieser Familienproduktion keine Tabus. Doch Robert Carsen spannt damit überzeugend und nah am Text einen Bogen übers Märchenklischee hinaus.
Während der Ouvertüre ist bei der vorweihnachtlichen Familienproduktion des Zürcher Opernhauses noch alles klassisch. Der rote Vorhang wird angestrahlt, mit Verve und plastisch gehen der Dirigent Markus Poschner und die Philharmonia Zürich Engelbert Humperdincks «Hänsel und Gretel»-Partitur an. Es dürfte später mit etwas weniger Druck musiziert werden, doch andererseits profitiert die Bühne davon, dass die Musik in jedem Augenblick mitagiert, statt nur zu begleiten.
Sobald sich der Vorhang hebt, stellt sich Beklemmung ein. Gideon Davey hat düstere, fensterlose Hinterhöfe auf die Opernhausbühne gebaut. Inmitten von Müll leben Hänsel und Gretel in einem halb ausgebrannten Wohnwagen und überbrücken die viele leere Zeit mit Hip-Hop-Moves. Die Mutter schafft offenbar an, der Vater verdingt sich als schäbiger Weihnachtsmann. Markus Brück macht die eher kleine Rolle zu einem singdarstellerischen Glanzstück und gibt dem Vater (mit obligater Schnapsflasche) tragische Dimension.
Die Konsumdrogen der Armen
Sein Sprechen von der Knusperhexe und ihrem Besen ist Realitätsflucht aus den höchst prekären Lebensverhältnissen – nichts von pittoresker Märchenwelt, sondern eine drastische heutige Übersetzung der Lage. Diese entspricht ja dem Text, wenn zwar Schnaps, aber keine Milch da ist und die Kinder für etwas Essen in den Wald geschickt werden.
Sie finden statt romantischen Märchenwald wieder nur lichtlose Hinterhöfe, wo sie die «Erdbeeren» im Abfall suchen, bis es dunkel wird. Da beginnen sich die Kartons zu bewegen, und die Container öffnen sich. Es erscheint aber kein Sandmännchen, das im Märchenlibretto den Kindern im dunklen Wald märchenhaften Schlaf bringt, sondern der Leader einer undurchsichtigen Gang (Hamida Kristoffersen). Es sind jene Breakdancer, die, choreografiert von Philippe Giraudeau, immer wieder auftauchen und die orchestralen Zwischenspiele szenisch füllen. Das könnte heikel sein, hier wirkt das nicht im Geringsten anbiedernd, sondern unterstützt die Zeichnung des Milieus und hält das junge Publikum auch optisch bei der Stange.
Die Gang ist unheimlich und faszinierend zugleich. Sie scheint auf der Seite der Kinder zu stehen, aber was sie ihnen in die Augen streut, ist nicht so klar. Der Effekt scheint bewusstseinserweiternd. Jedenfalls aus Erwachsenensicht, Kinder sehen wohl einfach den Traum. Stark, wie die ganze Story über die ganze Dauer auf mehreren Ebenen funktioniert und stimmig durchgeführt wird.
Gegenwelt in starken Bildern
In der folgenden Szene, der Engelpantomime, können die Kinder ganz naiv den vorweihnachtlichen Traum von vielen Geschenken aus blinkenden Schaufenstern sehen. Für die Erwachsenen geht Carsens Inszenierung hier konsequent weiter. Er zeigt, wenn sich die Rolltore öffnen und hinter den besprayten Brandschutzmauern sorgfältig inszenierte Spielzeugwelten aufgehen, den glitzernden Traum des grenzenlosen Konsums.
Das unterläuft und beglaubigt die zauberhafte Musik, die endlich auch einmal ganz leise wird und doch nie in Gefahr gerät, süsslich zu klingen. Das formidable Geschwisterpaar Anna Stéphany, die den Hänsel fast, und Olga Kulchynska, die Gretel ohne jede Operngeste singt und spielt, findet hier zu noch innigerem Miteinander. Auch sprachlich bleiben bei beiden keine Wünsche offen.
Wenn die Kinder wieder erwachen, finden sie sich zwischen geschmückten Weihnachtsbäumen wieder. Geschenke wachsen aus dem Boden, wie im Rausch reissen die Kinder sie auf. Fallen die falschen Weihnachtsbäume, bleibt nur das zerrissene Geschenkpapier – und aus der Glitzerwelt wird ganz schnell wieder der mit Unrat übersäte Hinterhof.
Mut zur Hässlichkeit
Die Knusperhexe sieht in ihrem Weihnachtsmannkostüm genau aus wie der Vater. Sie singt aber, weil man sich an die originale Besetzung der Rolle mit einem Mezzosopran hält und die Hexe mit derselben Sängerin besetzt hat, ein wenig wie die Mutter: Das Unheimliche liegt so nah. Marina Prudenskaya legt viel Verzweiflung in die Mutter und zeigt grossen Mut zur stimmlichen Hässlichkeit bei der Hexe. Ihr Feixen und falsches Schmeicheln wirkt mindestens so bedrohlich wie ihr blutverschmiertes Kostüm und ihre Axt.
Die Hexe wird schliesslich in den Ofen gestossen, wie es im Libretto steht. Dann stehen da aber die Gruselzwerge wieder, die ihr zuvor assistiert haben. Doch schieben sie keine Weihnachtsbäume mehr als Tarnung, sondern halten Fotos ihrer wahren Gesichter: Auch sie sind vermisste Kinder, wohl eher aus einer realen Welt als aus dem Märchen. Im folgenden Jubelfinale (der Kinderchor bewältigt ihn souverän) werden zwar alle erlöst, doch der bittere Geschmack bleibt. Ein weiteres starkes Bild! Den Kindern in der Premiere hat diese mutige Interpretation gefallen. Den meisten Erwachsenen auch.