Torbjörn Bergflödt, Südkurier (20.11.2018)
Armut hier und Reichtum dort – darum geht es in der Neuinszenierung von Engelbert Humperdincks Märchenoper "Hänsel und Gretel" am Opernhaus Zürich. Es ist ein temporeiches Lehrstück, aber auch was fürs Auge, wie unser Kritiker schreibt.
Wer „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck, uraufgeführt 1893, heute auf die Bühne bringen will, kann kaum noch mit Knusperhäuschen-Putzigkeit hausieren gehen. Das tut auch Robert Carsen in seiner Neuinszenierung am Opernhaus Zürich nicht. Überhaupt: Steckt nicht genug Schauerliches selbst noch in dem gegenüber dem Grimm-Märchen abgemilderten Libretto von Humperdincks Schwester Adelheid Wette? Die Frau eines Besenbinders schickt ihre Kinder in einem Anfall von Wut in den Wald, wo die Hexe sie nicht wie gewünscht zur Leckerkost für sich zubereiten kann, sondern von den beiden verbrannt wird: So ein Plot ruft fast nach einer Freigabe erst ab 16 Jahren.
Carsen nutzt den Stoff für ein bald temporeiches, bald poetisches Lehrstück über Armut und Überfülle. Der Regisseur und sein Ausstatter Gideon Davey haben die Familie in einen urbanen Dschungel geworfen, eine Art Vorstadt-Hölle. Unter Müllresten und umgeben von Graffiti-Mauern hausen vier Menschen in einem Wohnwagen. Bevor die Mutter die Kinder beim Herumalbern überrascht, verabschiedet sie sich gerade von einem Freier. Als die Kinder später im Wald eingeschlafen sind und träumen, werden sie – statt von Engeln – von einer Gruppe Obdachloser bewacht: Die Tänzer lassen diese Szene zu einem anrührenden Bild werden.
Wie Türen eines Adventskalenders öffnen sich nun Schaufenster und zeigen die Verlockungen des vorweihnachtlichen Konsum-Rummels. Das ist, will Carsen sagen, die einem Zuwenig gegenüberstehende andere Not: das Zuviel, die Überfülle Wohlhabender, nach der Hänsel und Gretel dürsten. Entsprechend tritt die Hexe, in ihrem Wald aus Christbäumen, im Kostüm eines Weihnachtsmanns auf, das sich auch der gutgelaunte Vater nach erfreulich verlaufenen Geschäften übergestreift hat. Marina Prudenskaya, die schon als notleidende Mutter im ersten Bild zu vernehmen war, singt als Knusperhexe mit einem sich schärfenden Mezzosopran.
Die Kinder haben einen Reifungsprozess durchlaufen, und der am Ende mit der Mutter herbeieilende Vater lernt womöglich mit der Zeit, seine Alkoholsucht in den Griff zu bekommen. Aber Carsen und seine Mitstreiter präsentieren keinen didaktischen Abend, sondern gönnen uns opulente Seh-Reize.
Musikalisch ist die Produktion beim Dirigenten Markus Poschner in guten Händen. Anna Stéphany als Hänsel und Olga Kulchynska als Gretel finden zu einem überzeugenden Neben- und Miteinander von schwebender Lyrik und pfiffiger Verve. Markus Brück als Vater lässt einen wunderbar resonanzreichen Bariton hören. Die Philharmonia Zürich macht deutlich, wie viel der Wagner-Verehrer Humperdinck dem „Meister“ verdankt. Aber es wird auch hörbar, wie er eigene Wege beschritten hat.