Kein richtiges Leben im falschen - auch nicht in Russland

Siri Kohl, VOX SPECTATRITIS (26.09.2005)

Ledi Macbet Mzenskowo ujesda, 25.09.2005, Zürich

Die Oper „Katerina Ismailowa“ ist die 1963 in Moskau herausgebrachte Neufassung von Dmitri Schostakowitschs 1934 uraufgeführter „Lady Macbeth von Mzensk“. Diese war trotz einigen Erfolgs beim Publikum auf wenig Gegenliebe bei sowjetischen Parteifunktionären gestossen. Vom Parteiblatt „Prawda“ wurde sie als „Chaos statt Musik“ abgetan, und in der Folge verbot die KPdSU die Aufführung der Oper.

Von der Erstfassung unterscheidet sich „Katerina Ismailowa“ hauptsächlich durch eine teilweise Glättung der musikalischen Struktur (weniger stimmliche Extreme in Höhe und Tiefe, weniger Extreme in der Instrumentalisierung) und durch eine Ersetzung vieler entweder betont erotischer oder auch derb-direkter Textteile durch dezentere Formulierungen.

„Chaos statt Musik“ - ein solches Verdikt wäre eine höchst unpassende Bezeichnung für die hervorragende Leistung, die Vladimir Fedoseyev mit dem Orchester der Oper Zürich dem weniger zahlreich als wünschenswert erschienenen Publikum bot. Vom expressiven Piano (selten) bis zum ohrenbetäubenden Fortissimo (häufig, da als musikalische Chiffre für Katerinas brutale Lebensumgebung gebraucht) führt er seine Musiker sicher durch die Tücken der Partitur, lässt Märsche, folkloristische Töne und liedhafte Einwürfe gleichermassen aufblitzen. Fragmentarisch scheinen sanfte Melodieansätze auf und verweisen auf mögliche - schönere - Lebensentwürfe der Katerina, die in der Welt, in der sie lebt, jedoch niemals Realität werden können. Eine sehr gute und dementsprechend mit Bravo-Rufen bedachte Leistung.

Die Inszenierung von Klaus-Michael Grüber unter Mitarbeit von Ellen Hammer vermag hier leider nicht auf gleicher Höhe mitzuhalten. Nüchtern, präzise, werkdienlich ist sie wohl, doch vermittelt sich kaum die Inhumanität der Verhältnisse, die Katerina erst zur Ehebrecherin und dann zur Mörderin macht. Wirklich packende Momente des Mitleidens, Mitgerissenwerdens durch die Bildersprache und Personenregie des Regisseurs fehlten mir an diesem Abend. Und das 7. Bild „Auf dem Polizeirevier“, in dem sämtliche Gendarmen mit identischen überdimensionalen (Stalin?)-Schnurrbärten ausgerüstet sind und ein von der Decke hängender (und deswegen auf dem 2. Rang mal wieder nur zur Hälfte sichtbarer...) verfremdeter russischer Doppeladler „Blut spuckt“ (das Spucken war eher ein Tropfen bzw. Kleckern, das seinen vermutlichen Zweck - die Grausamkeit des zaristischen wie auch des stalinistischen Polizeisystems deutlich zu machen - ziemlich verfehlte), wirkte eher verunglückt als grotesk-furchteinflössend.

Sängerisch gab es an diesem Abend wenig auszusetzen. Die Titelrolle war mit Solveig Kringelborn ausgezeichnet besetzt - die Sopranistin beherrschte ihre Stimme in allen Registern souverän, ihr weiches Timbre passt hervorragend zur in Tschechow-ähnlicher Langeweile und einer freudlosen Ehe gefangenen Katerina, doch sie besitzt auch den Farbenreichtum und die Aggressivität, um z.B. Katerinas schnelle und unerwartete Wandlung zur handfesten Fürsprecherin der Frauen (nach der von ihr verhinderten Vergewaltigung Axinjas) plausibel zu machen. Ihr stimmlicher und körperlicher Einsatz überzeugten voll und ganz und resultierten in wohlverdienten „Bravas“.

Viktor Lutsiuk als Schürzenjäger Sergej verliess sich leider durchgehend mehr auf die Kraft seines dunkel timbrierten Tenors als auf Stimmschönheit, was mich nicht ganz zu überzeugen vermochte. Dem Zuschauer wird dadurch nämlich nicht klar, wieso dieser Mann Katerina so zu fesseln vermag, dass sie sich erst für ihn opfern und den Mord an ihrem Mann auf sich nehmen will und ihm dann selbst nach einer rüden Zurückweisung auf dem Zwangsarbeitermarsch nach Sibirien noch ihre Strümpfe schenkt. Vermutlich kann bei manchen Frauen die Aussicht auf einen „echten Mann“ nach mehreren Jahren Ehe mit einem impotenten „Weichei“ unter Aufsicht von dessen paranoidem Vater an sich schon ein Aphrodisiakum sein; dennoch zeigt Sergej bereits von Anfang an sein wahres Gesicht, als er sich an Axinja - die Katerina vorher vor ihm gewarnt hatte - vergreifen will, und so überrascht es angesichts von Lutsiuks Mangel an Charme und stimmlicher Verführungskunst doch etwas, dass Katerina sich so bereitwillig auf ihn einlässt.

Alfred Muff als Katerinas Schwiegervater Boris Timofejewitsch Ismailow missfiel mir persönlich an diesem Premierenabend wieder einmal mit seinem fahlen Timbre und Tönen, die immer ein wenig „daneben“ klingen. Da aber für seine Rolle Stimmschönheit eher fehl am Platze wäre, geht vieles, was sonst störend auffiele, als rollengerecht durch; und darstellerisch liegt ihm der grobe, autoritäre russische Kaufmann ausgezeichnet, wenn er sich auch manchmal hart am Rande der Überzeichnung bewegt. Schostakowitsch macht es ihm allerdings auch nicht leicht, wenn der von Katerina vergiftete Boris nach seinem wortreichen Zusammenbruch ungefähr eine Minute lang stumm auf der Bühne liegen bleiben und sich in Krämpfen winden muss, bis das Gesinde mit dem Popen herbeieilt und er wieder singen darf... Doch Muff meistert auch diese Szene und ist in der ersten Hälfte des Abends (in der zweiten ist er tot) ein starker Gegenspieler Katerinas.

Der unglückliche - und mit wenig Notentext bedachte - Ehemann Sinowi Borissowitsch wird von Reinaldo Macias verkörpert, dessen italienisch geschulter Tenor stilistisch aus dem übrigen Ensemble apart heraussticht und durch seinen Schmelz erahnen lässt, dass diese Ehe vielleicht eine bessere Wendung hätte nehmen können, wenn Sinowi sich und seine Frau dem Einfluss seinen tyrannischen Vaters rechtzeitig entzogen hätte. Bei den kleinen Rollen muss zuerst die starke und auch noch nach ihrer Beinahe-Vergewaltigung würdevolle Axinja von Liuba Chuchrova genannt werden; weiter erfreuten die Leistungen von Martin Zysset (Ein heruntergekommenes Bäuerlein), Pavel Daniluk (Ein alter Zwangsarbeiter), Katharina Peetz (Sonetka - die auf dem Marsch der Zwangsarbeiter nach Sibirien Sergejs neue Geliebte wird, dies aber nicht lange überlebt, da die betrogene Katerina sie und sich selbst ins Wasser stürzt) und Reinhard Mayr (Pope - ein weiteres ebenso verfressenes wie versoffenes Exemplar der Spezies „komischer Bühnenpriester“).

Alles in allem ein musikalisch sehr guter und für Kenner der „Lady Macbeth von Mzensk“ - zu denen ich nicht zähle - sicher auch musikwissenschaftlich spannender Abend; das Zürcher Publikum reagierte mit freundlichem, aber nur selten (v.a. bei Fedoseyev und Kringelborn) grossem Applaus.