Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (20.11.2018)
Das Zürcher Opernhaus zeigt Engelbert Humperdincks «Hänsel und Gretel» als das, was diese erfolgreichste aller Kinderopern tatsächlich ist: ein wirklich gruseliges Stück.
Eine Hexe, diese Mutter! Kommt nach Hause, brüllt die Kinder an, weil sie ein bisschen gesungen haben, und schickt sie dann in den Wald auf Erdbeersuche, unter massiven Drohungen: «Bringt ihr den Korb nicht voll bis zum Rand, so hau ich euch, dass ihr fliegt an die Wand.» Dass Humperdincks in den 1890er-Jahren entstandene Märchenoper «Hänsel und Gretel» ein grausames Stück ist, wird da schnell klar. Robert Carsen, der Regisseur der neuen Familienproduktion des Zürcher Opernhauses, musste kaum nachhelfen, um aus dem Märchen einen Schocker zu machen.
Der arme Besenbinder haust hier als Sozialfall mit seiner Familie in einem Wohnwagen, irgendwo in der graffitibesprayten Peripherie einer Grossstadt (Ausstattung: Gideon Davey). Sein Geld vertrinkt er als Weihnachtsmann, während seine Frau Freier bedient, die dann doch wieder weniger bezahlen, als abgemacht war. In der Realität stünde da bald einmal die Kesb vor der nicht vorhandenen Tür; aber wir sind ja in der Oper, und den Kindern bleibt nichts anderes übrig, als tatsächlich in den Wald zu gehen, der hier eine Beton- und Abfallwüste ist.
Schöne neue Konsumwelt
Dort treffen sie auf harte Jungs, die als Breakdancer die orchestralen Zwischenspiele beleben und längst nicht so gefährlich sind, wie sie aussehen. Aber das Pulver, das ihr Boss, das Sandmännchen, den Kindern in die Augen streut, muss doch ein halluzinogenes sein.
Hänsel und Gretel träumen dann von der schönen neuen Konsumwelt, die sie nur von aussen kennen. Und wie da die Rollläden hochgehen und hell erleuchtete Schaufenster mit Legos und Fahrrädern und Bildschirmen freigeben; wie ein Weihnachtsbaum hereingeschoben wird und ein wärmendes Cheminée; wie die Schnee- und Weihnachtsmänner aus den Dekorationen steigen und sich um die schlafenden Geschwister stellen: Das funktioniert bestens als Traum. Und es kippt dann wie von selbst in einen Albtraum: Der Weihnachtsmann entpuppt sich als Hexe, sein weisser Bart wird blutig, seine Axt ist es schon. Dass er auch noch die Stimme der Mutter hat, dürfte zumindest den sensibleren Kindern im Publikum den Rest geben.
Starke Besetzung
Man muss es deutlich sagen: Die vom Opernhaus angesetzte Empfehlung ab acht Jahren ist in diesem Fall sinnvoll. Für Kinder, die noch an den Samichlaus glauben, ist dies definitiv das falsche Stück. Aber es ist eine starke Aufführung: Wie schon in seinen bisherigen Zürcher Inszenierungen (etwa in Händels umwerfend witziger «Semele» oder Puccinis klug umgedeuteter «Tosca») wählt der kanadische Starregisseur Carsen auch hier eine eigenwillige Perspektive – und bleibt dennoch nahe am Original.
Denn es war ja zweifellos kein Zufall, dass Humperdinck sowohl die Partie der Mutter als auch jene der Hexe für eine Mezzosopranistin geschrieben hat; dass die Hexe später oft als Tenor besetzt wurde (und immer noch wird), hat dem Komponisten gar nicht gepasst. Auch wenn er eine einzige Besetzung für die beiden Rollen nicht verlangt hat: Die stimmliche Verwandtschaft der beiden Figuren war Absicht.
Marina Prudenskaya gibt nun beide gleichermassen expressiv, also gruselig; sie keift und säuselt, brüllt und schmeichelt, dass es nicht nur den Kindern mulmig wird. Auch die übrigen Rollen sind stark besetzt: Markus Brück gibt einen gutmütigen, aber nicht wirklich brauchbaren Vater. Hamida Kristoffersen und Sen Guo verbinden als Sand- und Taumännchen leuchtenden Gesang und toughen Auftritt. Und Anna Stéphany und Olga Kulchynska als Hänsel und Gretel sind genau so sympathisch und verspielt und verängstigt, wie sie sein müssen.
Beängstigende Zwerge
Sie alle bestreiten 11 der insgesamt 18 Aufführungen in dieser Saison. Für die übrigen hat man eine Zweitbesetzung zusammengestellt, in der mit Irène Friedli als Mutter und Hexe, Ruben Drole als Vater und Deniz Uzun als Hänsel drei Zürcher Publikumslieblinge zum Zug kommen.
Auch am Dirigentenpult gibt es Wechsel; die Premiere leitete Markus Poschner mit viel Sinn für die volksmusikalische Schlichtheit wie auch für die wagnersche Klangsinnlichkeit des Werks. Im Einklang mit der Inszenierung hielt er die Spannung hoch – bis nach dem Feuertod der Hexe die ziemlich beängstigend maskierten Zwerge erlöst werden und als Kinder ins Finale einstimmen.
Das wäre der perfekte Schluss gewesen. Doch das Stück geht weiter, es steht noch die Versöhnung mit Mama und Papa an, die man sich in diesem Fall wirklich nicht wünschen würde. Aber so konsequent mochte nicht einmal Robert Carsen sein, dass er den Kindern das Happy End genommen hätte.