Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (05.02.2019)
Tatjana Gürbaca, die Regisseurin der Zürcher Neuinszenierung von György Ligetis einziger Oper, musste bei der Premiere unverhofft selber mitspielen. Auch sonst läuft bei diesem Weltuntergangsspektakel einiges aus dem Ruder – geplant wie ungeplant.
Der Weltuntergang lässt auf sich warten. Dabei arbeiten die Menschen doch nach Kräften daran. Aber als es endlich so weit ist, fällt die Apokalypse aus, fürs Erste jedenfalls. Denn der Tod ist unpässlich, er hat einen schweren Kater, hat im Suff seine Sense und irgendwo auch seine Mähre verloren: So kann er nicht arbeiten, nie und nimmer, geschweige denn ein Inferno entfachen. Womöglich ist er ohnehin bloss ein Hochstapler. Die Menschen aber, gerade noch einmal davongekommen, machen vorerst weiter wie gehabt: lieben, saufen, prassen, huren und was der sündigen Freuden mehr sind. Das Ende kann gerne warten – Leben ist schliesslich immer tödlich. Aber bitte erst morgen.
Das ist cum grano salis die Handlung von György Ligetis Oper «Le Grand Macabre» nach der gleichnamigen Vorlage des belgischen Surrealisten Michel de Ghelderode, eines Vorkämpfers des absurden Theaters. Ligetis einzige vollendete Oper von 1978, in endgültiger Fassung 1997 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, ist eines der wenigen Erfolgsstücke aus dem späten 20. Jahrhundert, die sich einen festen Platz im Repertoire mutiger Bühnen erobert haben. Jetzt sollte der Grosse Makabre auch am Opernhaus Zürich Einzug halten, in all seiner bizarren Herrlichkeit und endzeitlichen Lustigkeit. Vor seinem Erscheinen allerdings betrat Andreas Homoki die Bühne.
Humor, dem nie zu trauen ist
Mit sorgenvoller Miene verkündete der Intendant nicht etwa die Erkrankung des Sängers der Titelpartie (was irgendwie der Logik des Stücks entsprochen hätte), aber der Sängerin der Mescalina, einer zentralen weiblichen Rolle. Die Einspringerin für die arme Judith Schmid habe man erst am Morgen von der Karibikinsel Guadeloupe eingeflogen. Wegen der Kurzfristigkeit könne die heldenhafte Sarah Alexandra Hudarew indes nur singen, nicht spielen. Die Darstellung übernehme die Regisseurin der Produktion, Tatjana Gürbaca, selbst – ohne eigene Probe, aber immerhin mit eigenem, rasch zusammengeschneidertem Kostüm. Kann ja heiter werden, denkt man noch.
So richtig heiter wird es dann in den folgenden zwei ohne Pause durchgespielten Stunden aber nicht. Gürbaca, die ihre unverhoffte Aufgabe als Darstellerin auf der Bühne so reibungslos, intensiv und stimmig erledigt, als wäre die Aufteilung der Rolle schlicht ein weiterer Regieeinfall, bleibt bei ihrer Inszenierung erstaunlich brav. Über weite Strecken sieht das Ganze aus wie eine Versuchsanordnung, bei der die Figuren im grauen, hohen Kastenbühnenbild von Henrik Ahr präzise von links nach rechts oder im Kreis bewegt werden, über schwankende Podien klettern, hinter unscheinbaren Türen verschwinden und auch sonst allerlei Unsinn treiben. Das alles ist nicht falsch, entfaltet aber derart wenig Witz, dass man sich insgeheim zu fragen beginnt, ob vielleicht Ligetis einst so schockierende Opernfarce ein wenig in die Jahre gekommen sei.
Tatsächlich ist diese «Anti-Anti-Oper», wie Ligeti das Werk listig genannt hat, ein verteufelt schweres Stück – gilt es hier doch, genaue Balance zu halten zwischen einem Humor, dem nie zu trauen ist, und dem apokalyptischen Blick in Abgründe. Überwiegt das Endzeitliche die Farce – wie bei Peter Sellars’ Erstinszenierung der Salzburger Neufassung, die der Komponist vehement ablehnte –, kippt das Werk leicht ins Fade, Moralinsaure. Dominiert dagegen das Grell-Lustige, sieht man sich konfrontiert mit dem Grundproblem aller Stücke dieser Theaterströmung seit Alfred Jarrys «Ubu Roi»: dass nämlich die eigentlich künstlerisch überformte Darstellung des Absurden auf der Bühne selbst zu einer schrillen Nonsens-Veranstaltung wird.
Gürbaca umschifft Skylla wie Charybdis gleichermassen gekonnt, dürfte aber in der Figurenzeichnung mehr karikierende Zuspitzung wagen. So geraten die von Verdis «Falstaff» inspirierten Saufszenen mit Piet vom Fass – dem auch stimmlich agilen Alexander Kaimbacher – wirklich in die Nähe einer uralten Opernklamotte. Ebenso könnte die SM-Beziehung zwischen der männerhungrigen Mescalina und Astradamors (Jens Larsen), dem hellsichtigen, aber impotenten Hofastrologen, im wahrsten Sinne mehr Biss vertragen. Und regelrecht verschenkt sind die satirischen Szenen am Hof des kindischen Fürsten Gogo (der sängerisch brillante Countertenor David Hansen), der unmittelbar Büchners «Leonce und Lena» entsprungen scheint.
Hier wird Gogo zwar von seinen beiden Ministern (Oliver Widmer und Martin Zysset) umschwänzelt wie einst 007 vom schwulen Agentenpärchen Mister Wint und Mister Kidd («Diamonds Are Forever»), aber das bleibt Anspielung, ohne echte satirische Sprengkraft. Eine solche entfaltet immerhin, rein aus dem Gesang, die Sopranistin Eir Inderhaug, die in der Doppelrolle der Venus und des Chefs der «Gepopo» (der Geheimen Politischen Polizei) mit atemraubenden, sich förmlich in Stratosphärenhöhen überschlagenden Koloraturkaskaden vom Unausweichlichen berichtet – dies allerdings in einem derart verworrenen Agentenjargon, dass niemand die Botschaft versteht.
Noch mal Glück gehabt
Wir wissen freilich längst, worum es geht. Nicht schleichender Klimawandel bedroht das Leben, sondern ein Komet, der auf die Erde zurast. Um Mitternacht, wenn der Jüngste Tag anbricht, will Nekrotzar, der Grosse Makabre, sein blutiges Fest feiern. Dieser Umschlag ins Dämonische gelingt Leigh Melrose in der Titelrolle vortrefflich, und man hält – ganz im Sinne Ligetis und seines Co-Librettisten Michael Meschke – für einen längeren Moment den Atem an, wenn der Schnitter, plötzlich alles andere als ein jovialer Freund Hein, vom Erdröhnen der Posaunen und dem Erscheinen der einschlägigen Reiter kündet. Dumm nur, dass dem Tod gerade sein als Reittier rekrutierter Sancho Pansa alias Saufbold Piet abhandengekommen ist. Vor lauter Kummer berauscht sich der Makabre, vermeintlich am Blut seiner Milliarden Opfer, und verschläft betrunken den Weltuntergang.
Tito Ceccherini, der von Fabio Luisi bereits zu Beginn der Proben das Dirigat übernahm, entfacht mit der Philharmonia im Graben ein wahres Höllenspektakel – sehr laut, sehr schlagzeugbetont, aber im Timing exakt auf die Bühne abgestimmt. Dass er auch ein (ausbaufähiges) Gespür für den leisen, mikropolyfonen Ligeti besitzt, der mit Orchesterwerken wie «Atmosphères» und «Lontano» oder dem in Kubricks «2001» sinnstiftend zweckentfremdeten Requiem Musikgeschichte geschrieben hat, zeigt Ceccherini in den als Running Gag eingestreuten Liebesszenen zwischen Alina Adamski und Sinéad O’Kelly. Als Amanda und Amando lieben sich die beiden so exzessiv, dass sie im kleinen Tod den grossen ganz einfach ignorieren. Den Glücklichen schlägt halt keine Stunde.