Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (09.04.2019)
Die Opernhäuser in Zürich und Frankfurt erzählen in «Manon» von Jules Massenet und Franz Schrekers «Fernem Klang» vom Schicksal zweier Frauen, die ihre Schönheit und ihren Körper verkaufen. Nur eine Produktion dringt in die tieferen Dimensionen des heiklen Themas vor.
Sie tragen verheissungsvolle Namen, heissen Poussette, Javotte und Rosette, auch Mizzi, Milli, Musette und Violetta. Manche nennen sich aufreizend Dodo, Frou-Frou oder Clo-Clo, andere schlicht Greta, Mimì und Manon. Zu Dutzenden bevölkern diese Halbweltdamen, wohlmeinend zu «Grisetten» und «Kokotten» verharmlost, die Theaterstücke, Opern und Operetten des späten 19. Jahrhunderts. Sie sind, keine Frage, Zerr- und Abziehbilder, geboren aus der Lust am Klischee, doch mit einem Hauch verruchter Realität – in anderen Worten: fleischgewordene Wunscherfüllungen einer verklemmten Epoche.
Dazumal träumte man(n) zwar von erotischer Befreiung und Libertinage, konnte sich die freie Liebe und gar eine selbstbestimmte weibliche Sexualität am Ende aber doch nur aus der sicheren Distanz der Bühne vorstellen. Und den realen Akt, den schnöden Vollzug des uralten Körperhandels, hatte man vorsichtshalber ja schon vor Jahrhunderten in Hinterzimmer, Spelunken und einschlägige Etablissements verbannt. Die Opernhäuser in Zürich und Frankfurt zeigen derzeit zwei Werke, in denen das sattsam bekannte «Traviata»-Muster – tugendhafter Mann verliert Unschuld und Ehre an eine Vertreterin des halbseidenen Metiers – das eine Mal bedient, das andere Mal aufschlussreich durchbrochen wird.
Projektionsfläche
In Zürich ist es die schillernde Manon, entsprungen den lüsternen Phantasien des gleichermassen schillernden Abbé Prévost, die in der Vertonung von Jules Massenet die Herzen der Männer bezirzt. In Frankfurt erzählt Franz Schrekers Oper «Der ferne Klang» knapp dreissig Jahre später eine verblüffend ähnliche Geschichte, die der moralischen Verdammung der Frau jedoch ein ganz anders getöntes Ende entgegenstellt. Zürich hat mit Massenets Opéra comique von 1884 zweifellos das melodiensattere, opernhaftere Stück im Programm. Dafür ist Schrekers Sensationserfolg von 1912, der seinen kurzen, von den Nazis nachhaltig zerstörten Weltruhm begründete, das vielschichtigere Werk.
In Frankfurt tut der Regisseur Damiano Michieletto freilich auch mehr, um den im Zeitalter der Emanzipation und des Spätfeminismus durchaus heiklen Stoff in allen seinen Facetten zu durchleuchten. Floris Visser beschränkt sich dagegen in Zürich auf eine trotz der prächtigen Ausstattung von Dieuweke van Reij ziemlich brave Bebilderung des bekannten Sujets.
So sehen wir also die schöne Manon, verkörpert vom dänischen Shootingstar Elsa Dreisig, wie sie in ihrer Gier nach Luxus, Juwelenglamour und Amüsement sich selbst und den jungen Chevalier Des Grieux – mit hinreissender Operettenverve gesungen von Piotr Beczała – Schritt um Schritt zugrunde richtet. Sie ist, wie ihre spätere Wedekind-Schwester Lulu, vor allem passive Projektionsfläche für die Männer, die sie umflattern wie die Motten die tödliche Flamme, scheint selbst aber gar nicht zu agieren. Visser und Dreisig folgen in ihrer milden, streckenweise zu wenig ausgearbeiteten Charakterzeichnung tatsächlich dem überkommenen Ideal der Femme fragile.
Der für diesen Rollentypus charakteristische Umschlag ins Gegenbild der Femme fatale und die Dämonisierung zur «heiligen Hure» werden am Ende des dritten Aktes im Kloster von Saint-Sulpice als Option immerhin angedeutet, bleiben aber sorgsam im Bühnenhintergrund versteckte Episode. Die Beschränkung der Figur wäre auch, trotz der Nähe zum Klischee, an sich nicht falsch; sie wirkt aber über die Dauer von dreieinhalb Stunden – Massenets Fünfakter wird ohne nennenswerte Kürzungen und sogar inklusive Ballett gespielt – doch etwas fad. Wie viel lebendiger erscheint dagegen die Gestalt der Greta im «Fernen Klang»!
Selbstbefreiung
Greta, hingebungsvoll gespielt und gesungen von Jennifer Holloway, verspricht dem Komponisten Fritz (Ian Koziara), auf das gemeinsame Glück zu warten, bis jener den titelgebenden Klang gefunden hat; soll heissen: die Eingebung zu seinem Lebenswerk. Als Chiffre geistert dieser sphärische Klang unablässig durch die raffiniert orchestrierte Partitur – wie sich überhaupt die Oper schliesslich als dasjenige Werk entpuppt, das der als Mensch wie als Künstler scheiternde Fritz immer schreiben wollte. Mehr noch als Schrekers geistreiches Spiel mit der Selbstbezüglichkeit (auf ein eigenes Libretto) interessiert Michieletto indes der Prozess der Selbstbefreiung, den Greta bis zum späten Wiedersehen mit ihrem Jugendfreund durchläuft.
Wie Manon am Ende verdingt sich Greta als Prostituierte. Michieletto mildert jedoch die heute zeitgebunden anmutenden Kolportage-Elemente ab und zeigt diesen Schritt als einen bewussten Ausbruch Gretas aus ihren unhaltbaren Lebensumständen (mit einem alkoholkranken Vater, der die eigene Tochter im Wirtshaus verspielt). Auch wenn Greta äusserlich immer tiefer sinkt, von der Edelkurtisane in der venezianischen «Casa di maschere» allmählich absteigt zur Strassendirne, erzählt die Regie in schönstem Einklang mit der Musik die gegenläufige Geschichte vom inneren Wachstum der Figur, ungeachtet allen Elends. Und immer klarer tritt hervor, dass Greta selbst das Geheimnis des «fernen Klangs», also den Schlüssel zur Inspiration, immer schon in sich trägt.
Der Moment, als Fritz und Greta dies bei ihrem letzten Wiedersehen erkennen, als beide, nunmehr alt, krank und gezeichnet vom Leben, ihr Dasein und ihre Liebe als vertane Chance begreifen, gerät zum Anrührendsten, was seit langem auf der Frankfurter Bühne zu sehen war. Das hängt auch mit der traumwandlerischen Sicherheit und Sensibilität zusammen, mit der Generalmusikdirektor Sebastian Weigle und das Museumsorchester Schrekers suggestive Klänge gerade im Leisen zum Sprechen bringen. Der Zürcher Gastdirigent Marco Armiliato und die Philharmonia sind von solcher Verfeinerung meilenweit entfernt.
Zu viel Brio
Da rumpelt es mitunter aus dem Graben wie in einer mit zu viel Brio angegangenen italienischen Oper. Der filigrane Stil, die zart atmenden Melodiebögen, der instrumentatorische Reiz von Massenets Partitur werden viel zu häufig mit breitem Pinsel übertüncht. Das beeinträchtigt bedauerlicherweise auch das Debüt von Elsa Dreisig in der Titelrolle: Gibt sie der Partie anfangs ungemein subtile, leicht melancholisch getönte Farben, so gerät die Stimme im Verlauf des Abends so unter Druck, dass sich bei den Spitzentönen ein beunruhigendes Flackern einstellt. Auch gestalterisch möchte man der jungen Sängerin noch ein, zwei Jahre Zeit wünschen, um die Figur über den Schöngesang hinaus mit Leben zu erfüllen.
Von beidem besitzt Piotr Beczałas Des Grieux mehr als genug, allerdings verlässt auch er sich vorwiegend auf seine phänomenal kontrollierten vokalen Mittel – die Wandlung des Chevaliers vom blind Verliebten zum Abbé und retour (bis zur finalen Desillusionierung) vermag auch er nicht durchweg glaubhaft zu machen. Dem Zürcher Publikum ist’s einerlei, es feiert die Protagonisten, das solide Ensemble und den von Ernst Raffelsberger einstudierten Chor mit einhelligem Jubel. Was die Kunstform Oper darüber hinaus vermag, lernt man hingegen anderswo.