Tobias Gerosa, Neue Zürcher Zeitung (30.04.2019)
Wenn Rossinis Zuwanderer-Komödie «Il turco in Italia» so gut besetzt, so detailgenau und flott inszeniert und dann noch mit einer schlüssigen Regie-Idee ins Heute geholt wird, macht Oper richtig Spass – wie jetzt in Zürich.
Plötzlich kleben sie überall: rot-schwarze Wahlplakate in unverkennbarer Anlehnung an reale Bespiele. «Wollen wir das?», steht über ein paar dunklen, vermummten Gestalten. Klar, wer damit gemeint ist in diesem Wohnblock, wie er in Göhnerswil oder irgendwo sonst stehen könnte – so klar, dass die Plakate auf den offiziellen Pressebildern des Opernhauses vorsichtshalber nirgends zu sehen sind.
Zur Ouvertüre, die Enrique Mazzola so aufregend klar disponiert, als wäre die Musik aus verschiedenen überlappenden Schichten zusammengefügt, langweilt sich die brave Hausfrau Fiorilla mit dem Wegräumen von Wäsche und Spielzeug (wo bleibt eigentlich das dazugehörige Kind während der folgenden drei Stunden?), derweil der Hauswart Narciso die freie Wohnung nebenan für einen neuen Mieter bereitmacht. Der lässt nicht lange auf sich warten.
Trainerhosen und Kopftücher
Man muss bei Ben Baurs Bühne fast von Architektur sprechen: Auf der Drehbühne stehen drei identische Wohnungen, dazu ein Vorder- und ein Hintereingang, Briefkästen, Veloständer und Waschküche. Dies situiert die Komödie von 1814 klar im heutigen Milieu einer Vorstadt. Zudem ermöglicht das Nebeneinander die notwendigen raschen Wechsel fast als Parallelszenen: Während in der einen Wohnung gesungen wird, geht die Handlung in der andern stumm weiter. Das sorgt für Zug und Plausibilität und ermöglicht ein so exaktes wie amüsantes Spiel mit Klischees über die jeweils anderen.
Hier trifft der lokale Mittelstand auf Zugewanderte und Zugezogene. Immer wieder gehen Leute in den anderen Wohnungen ein und aus: Normalos, Migranten mit Kopftüchern und Junge in Trainerhosen. Das Neue und Fremde kann bedrohlich sein, aber auch anziehend. Es zieht in Person des smarten, jungen «Türken» Selim in die leere Wohnung gleich neben Fiorilla und ihrem Puschen-Ehemann Geronio. Klar, dass es alsbald funkt. Dumm nur, dass Selims Frau Zaida ebenfalls eingetroffen ist.
Die übliche Dreiecksgeschichte? Im Prinzip ja, nur kommen noch drei Ecken hinzu. Entscheidend wird die Figur des Prosdocimo, im Original ein Dichter, im Opernhaus jetzt ein Filmemacher. Rossini fügt hier, noch vor Pirandello, den Autor ein, der seinen Stoff während der laufenden Handlung entwickelt; hier wird er zum Antreiber mit omnipräsenter Kamera. Und die menschlichen und kulturellen Konflikte sind ein gefundenes Fressen für seinen nächsten Film.
Der Bariton Pietro Spagnoli nutzt seine ganze Erfahrung für den untergründigen Strippenzieher. Jan Philipp Gloger, der am Zürcher Opernhaus mit ganz ähnlicher und ähnlich überzeugender Aktualisierung schon Vivaldis «La verità in cimento» inszenierte, nutzt das Bühnenbild und seine Erfahrung im Schauspiel für eine witzige, detailreiche und rasante Personenführung. Wären in der Oper doch immer alle Figuren, auch wenn sie gerade nicht singen, so präsent wie hier!
Buffo-Schemen – verlebendigt
Dabei erfindet Gloger die Komödie keineswegs neu; er weiss aber, worauf es ankommt: auf Timing und aufs Tempo, das eben nur zum Teil von der Musik vorgegeben wird. Davon profitiert das spielfreudige Ensemble enorm – auch gerade weil die Handlung abläuft wie erwartet. Das beginnt bei der sängerisch sonst weitgehend uninteressanten Rolle des Albazar, gesungen von Nathan Haller, von dem man gern mehr hören würde.
Ebenso wertet er die szenisch sonst kaum eingebundene Tenorpartie Narcisos auf. Während Ehemann Geronio in bester Buffo-Manier plappert (Renato Girolami macht das stimmlich in bester italienischer Tradition), darf Narciso tenorig leiden, bekommt aber szenischen Tiefgang. Aus Frust, dass Fiorilla von ihm nichts wissen will, aber mit Selim anbandelt, klebt er erst die fremdenfeindlichen Plakate und tauscht dann den Hauswartkittel gegen eine Bomberjacke und Springerstiefel. Edgardo Rochas heller, metallisch grundierter Tenor passt dazu sehr gut: ein Abgehängter, der sich radikalisiert.
Er hat keine Chance bei Fiorilla, sie muss sich schliesslich entscheiden zwischen Selims Angebot, mit ihm in die Türkei zu fahren, und der Aussicht, bei ihrem Ehemann zu bleiben. Abenteuer oder Sicherheit? Julie Fuchs gestaltet die weibliche der beiden Hauptrollen fulminant, wie gewohnt bei der französischen Sopranistin als eine Kombination von Spiellust und stimmlichem Feuerwerk. Da sitzt jeder Blick und jeder Zwischenton, schade nur, dass bei ihrem Rollendebüt an der Premiere gerade in der grossen Szene bei den Koloraturen und den Spitzentönen einige kleine Einschränkungen hörbar sind.
Trennscharfe Besetzung
Als ebenbürtiger Partner neben Fuchs agiert Nahuel Di Pierro als Selim: ein gewinnender Typ zwischen zwei Frauen, gewitzt und mit Charme, aber unentschlossen. Von den beiden anderen Baritonpartien muss sich Selim auch stimmlich abheben, und auch da hat das Besetzungsbüro des Opernhauses ganze Arbeit geleistet. Di Pierro klingt dunkler und weicher als Spagnoli und Girolami, damit auch verführerischer – selbst wenn etwas mehr Metall gerade in der Höhe ihn in den Ensembles noch präsenter wirken lassen würde.
Überhaupt – die Ensembles. Enrique Mazzola, ein überall gefragter Belcanto-Spezialist, dirigiert die Philharmonia Zürich pointiert und immer wieder mit überraschend herausgehobenen Mittelstimmen. Enttäuschend wenig vom berühmten Rossini-Sog entwickelt er dagegen in den Ensembles und Concertati, die etwas unterbelichtet bleiben. Trotzdem: Komödie kann einfach unterhalten. Gute Komödie thematisiert mit leichter Hand reale Probleme. Damit gelingt dem Opernhaus ein Volltreffer – inklusive einer Schlusspointe, die wir natürlich nicht verraten.