Gewusel in Babylon

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (25.06.2019)

Nabucco, 23.06.2019, Zürich

Zum Ausklang der Saison inszeniert Andreas Homoki Giuseppe Verdis berühmte Freiheitsoper. Ihre packende Dynamik gewinnt die Produktion allerdings vor allem durch den Mann am Pult.

Was ist denn das? So staunen wir, wenn uns der stets um unser Wohl besorgte Operngott unversehens mitten hinein versetzte in eine Aufführung von Verdis «Nabucco», den Titel des Stücks aber boshafterweise vorerst für sich behielte. Ein später Donizetti? Rossini mit dickerer Tinte? Etwas Unbekanntes von Bellini? Oder gar ein ganz früher Wagner, womöglich das verpönte «Liebesverbot»? Irgendwie ist von allem etwas dabei, Anlehnungen, Zitate, Experimentell-Unausgegorenes. Zwischendrin jedoch blitzen Juwelen auf: ein Vater-Tochter-Duett á la «Rigoletto», ein Terzett in der explosiven Dreieckskonstellation der «Aida» – und ein sehr berühmter Chor, der die Gedanken auf goldenen Flügeln in die Freiheit fliegen lässt, übrigens in exotischem Fis-Dur.

Giuseppe Verdis dritte vollendete Oper von 1842 steht am Beginn jener eindrucksvollen Reihe von über dreissig Bühnenwerken, die den Bauernsohn aus Roncole zum Zentralgestirn der italienischen Musik im 19. Jahrhundert machten. Mit dem später zur Risorgimento-Hymne stilisierten «Va, pensiero sull’ali dorate» hat Verdi sogar Einfluss auf die politische Einigung seines Landes genommen, und es ist vor allem dieser Chor, bei dem das Publikum in aller Welt in Gedanken (oder laut) mitzusummen pflegt, weswegen man das Stück von Zeit zu Zeit – und jüngst wieder häufiger – aus den Archiven holt. Eine szenische Gesamtproduktion des «Nabucco» ist allerdings eine durchaus heikle Angelegenheit, wie man jetzt zum Saisonfinale am Opernhaus Zürich lernen kann.
Ein strauchelnder Politiker

Der am Ende wohlwollend, aber nicht überschwänglich beklatschte Abend vor ausverkauftem Haus ist in jeder Hinsicht Chefsache. Intendant Andreas Homoki inszeniert selber, Generalmusikdirektor Fabio Luisi steht am Pult. Und was Luisi im Graben mit der merklich hochkonzentrierten Philharmonia Zürich veranstaltet, ist eine Freude: Trocken, knackig, rhythmisch pulsierend, zielgerichtet auf den Punkt gebracht, so klingt dieser frühe Verdi – gleichsam ohne ein Gramm Fett zu viel, ohne pathetische Dehnungen, doch mit umso mehr melodischem Feuer. Luisi, das weiss man spätestens seit seiner prägenden Mitwirkung in Christian Spucks Ballettadaption der Messa da Requiem, ist bei Verdi hörbar in seinem Element.

Luisis stilistisches Gespür und der straffe, durchweg dramatische Zug seines Dirigats helfen der qualitativ uneinheitlichen Musik sogar über manche Jugendwerksbanalität hinweg und lassen an den dichtesten Stellen Ahnungen des fünf Jahre jüngeren «Macbeth» aufscheinen. Auch deshalb, weil Luisi das Stück gezielt der damals zu Ende gehenden frühen Belcanto-Tradition entrückt und es als Vorläufer von Verdis ureigener Form eines «melodramma» versteht, in dem die Musik nicht mehr vorrangig der Darbietung sängerischer Glanzleistungen dient, sondern dem szenisch wahrhaftigen Ausdruck. Dies kommt vor allem zwei Sängern der ungewöhnlich besetzten Zürcher Produktion zugute.

Mit Michael Volle in der Titelrolle und Georg Zeppenfeld als Hohepriester Zaccaria singen an diesem Abend zwei führende Wagner-Interpreten unserer Zeit, die sich freilich nie auf das deutsche Fach festlegen liessen. Zeppenfeld, gerade zu Recht als Hans Sachs in den Salzburger «Meistersingern» umjubelt, tut sich indes ein wenig schwer mit dem Wechsel ins stärker auf Legato-Kultur und weite melodische Bögen abgestellte italienische Fach, zudem kämpft er anfangs mit der unangenehmen Höhe seiner Basspartie. Wie intensiv dieser tiefsinnige Sänger zu gestalten vermag, zeigt er dagegen in der betörend von obligaten Celli umspielten Preghiera «E di canti a te sacrati», einem oft übersehenen Bijou der Partitur.

Leider verweigert Homokis Regie dem Hohepriester der Hebräer ein entsprechend klares Rollenprofil, so dass die sonst so packende Auseinandersetzung mit Nabucco merkwürdig unterbelichtet bleibt. Michael Volle nutzt diesen Freiraum, um sich ganz auf das innere Drama des Königs der Babylonier zu konzentrieren, der vom Himmel mit Wahnsinn geschlagen wird, als er sich selbst zum Gott erheben will. Das erinnert in der Intensität von Volles Darstellung wiederum an das Ringen und Hadern des Machtmenschen Macbeth, wobei Volle in der packenden Schlussszene des zweiten Teils («Chi mi toglie il regio scettro?») ein Musterbeispiel für jenen charaktervollen, fast gesprochenen «Nichtgesang» liefert, den Verdi später für die Lady Macbeth forderte.

Allerdings bezahlt Volle die Intensität gegen Ende mit Heiserkeit. Doch sogar das passt, denn Nabuccos finale Bekehrung zum Gott der Hebräer wirkt hier nicht wie ein triumphaler Akt der Erkenntnis, eher wie der Griff eines strauchelnden Politikers nach dem letzten rettenden Ast in rauer See. Je näher er dem Untergang kommt, desto stärker wird seine intrigante Tochter Abigaille, die sich ein tödliches Duell mit ihrer zum Judentum bekehrten Halbschwester Fenena (Veronica Simeoni) liefert. Anna Smirnova, zuletzt als Ortrud in Zürich zu Gast, hatte die gefürchtete Partie schon während der Proben von Catherine Naglestad übernommen; sie singt sie mit heftiger Attacke, in den Spitzentönen zweimal schmerzhaft distonierend, aber um Differenzierung bemüht. Und sie beherrscht das sonst recht wuselig wirkende Bühnengeschehen um sich herum.

Konvention und Genie

Was Homoki über das innere Drama Nabuccos und das familiäre Duell der beiden ungleichen Schwestern hinaus zu dem alttestamentlichen Machtpoker sagen will, bleibt nämlich weitgehend der Deutungsphantasie der Zuschauer überlassen – ein durchaus bewährter Ansatz seiner Inszenierungen, der hier jedoch zu vage wirkt und derart abstrakt um sich selber kreist, als habe Homoki partout einen streng ästhetisierten Gegenentwurf zu der streitbaren Aktualisierung schaffen wollen, die Kirill Serebrennikow kürzlich in Hamburg vorgelegt hat.

Auch auf der von Wolfgang Gussmann in Smaragdgrün, Beige und Schwarz gehaltenen Bühne kreist unablässig ein rechteckiges Etwas: eine riesige Wand, die alle Protagonisten, vor allem aber den – dennoch – konzis und ausgesprochen klangschön singenden Opernchor (samt Zusatzchor) ruhelos über die Bühne treibt. Vor und neben der Wand, die man wohlwollend als Tempelmauer deuten kann, spielen sich in flüssiger Abfolge die nahtlos wechselnden Szenen des Stückes ab. Diese Dynamik, die mit der Energie von Luisis Tempi korreliert, ist ein Gewinn, auch wenn einzelne Arrangements in so schon hundertmal gesehenen Opernklischees erstarren.

Daneben gibt es frappierende Momente wie den Triumph der Abigaille am Ende des zweiten Teils oder den ganz still, quasi konzertant inszenierten Gefangenenchor, der mit Zwischenapplaus belohnt wird. Ob dieses szenische Wechselbad schlicht einer gewissen Ermüdung am Saisonende geschuldet ist oder ob der gewiefte Handwerker Homoki damit bewusst das Nebeneinander von Konvention und Genieblitzen in Verdis Partitur nachzeichnen will – es bleibt sein Geheimnis.