Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (24.06.2019)
Andreas Homoki räumt auf, während Michael Volle sich ins emotionale Chaos stürzt: Verdis «Nabucco» am Zürcher Opernhaus.
Der arme Nabucco! Eben erst ist er aus seinem Wahnsinn erwacht, sieht die Katastrophe kommen, ruft nach seiner Waffe und seinem Pferd – aber nein, die sind nicht hier. Nicht auf dieser Bühne, die der Regisseur und Zürcher Operndirektor Andreas Homoki einmal mehr gründlich leer geräumt hat. Der Ausstatter Wolfgang Gussmann durfte nur einen grossen, grünen Marmorblock liefern, der sich dreht und verschiebt, die Figuren in die Enge drängt und dekorative Rundläufe des Chors ermöglicht. Man kennt das Prinzip aus anderen Homoki-Inszenierungen.
Weg mit den Klischees!, heisst es. In diesem Fall allerdings auch: Her mit den Klischees! So entschieden Homoki die alttestamentarischen Sandalen und die sandigen Weiten von der Bühne verbannt hat, die man mit Verdis «Nabucco» verbindet – seinen eigenen Maschen entkommt er nicht, und sie ziehen sich enger um das Stück, als ihm guttut.
Drohung im Mezzopiano
Denn auch das zweite Prinzip ist vertraut: Homoki konzentriert sich ganz auf die Protagonisten und ihre Beziehungen; der Rahmen der Geschichte bleibt genauso abstrakt wie das Bühnenbild. So wird der religiöse Konflikt zwischen den Babyloniern und den Hebräern reduziert auf marmorgrüne und beige Kostüme. Diese verweisen zwar auf die Verdi-Zeit des Risorgimento, aber so stilisiert, dass auch die politische Sprengkraft des Stücks entschärft wird. Nabucco, der babylonische König, ist für Homoki vor allem ein Vater, der sich zurücksehnt nach den Zeiten, als seine Töchter Fenena und Abigaille noch klein waren und nur zum Spiel nach der Krone griffen.
Der deutsche Bariton Michael Volle, der in dieser live auf Arte concert übertragenen Premiere sein Rollendebüt als Nabucco gibt, ist allerdings genau der Richtige für diese Aufführung. Er braucht keine Requisiten, an denen er sich festhalten kann, er hat diesen König in sich: nicht nur seine Vaterliebe, sondern auch seine Brutalität, seinen Grössenwahn, seine Verzweiflung. Eine Geste genügt ihm, um einen mit hineinzuziehen ins emotionale Chaos, das er auf dieser aufgeräumten Bühne erlebt. Und drohen kann er auch im Mezzopiano so, dass es gefährlicher klingt als bei anderen im Fortissimo.
Wahnsinn! Michael Volle als Nabucco, Anna Smirnova als seine (adoptierte) Tochter Abigaille. Foto: Monika Rittershaus
Das ist das Schönste an diesem Abend: Dass dieser Sänger nicht nur gegen die Nabucco-Klischees ansingt, sondern seine Figur wirklich zu verstehen scheint. Dass er in dieser frühen Verdi-Partitur Zwischentöne findet, die vielleicht gar nicht drinstehen. Keinen einzigen gebrüllten Ton hört man von ihm an diesem Abend, er hält seine gewaltige Stimme konsequenter im Zaum als das nicht vorhandene Pferd. Aber in Sachen Ausstrahlung, Gestaltungskraft und Effektsicherheit geht er aufs Ganze.
«Va, pensiero», ganz leise
Das Zweitschönste passiert im Orchestergraben, wo Generalmusikdirektor Fabio Luisi mit einer entfesselten Philharmonia Zürich rasante Tempi anschlägt. Schon in der Ouvertüre spitzt er Verdis «ta-da-dam»-Rhythmen zu, bis er ihnen jegliche Routiniertheit ausgetrieben hat. Was formelhaft wirken könnte, wird übersteigert ins Manische; dann wieder klingen Melodien, als seien sie eben erst erfunden worden. Und wo das Publikum mitschunkeln möchte, weiss man das zu verhindern.
Damit wären wir beim Hit des Stücks, beim Gefangenenchor «Va, pensiero», der hier für einmal ganz leise gesungen wird. Nicht nur, um es anders zu machen als die anderen; sondern weil es so stimmt in diesem Moment, und weil der von Janko Kastelic vorbereitete Chor wirklich wunderbar leise zu singen versteht. Dass er auch anders kann, nämlich laut, sehr laut, und dennoch kontrolliert: Das wird in den anderen Passagen ausgiebig vorgeführt.
Sie können leise, sie können auch laut: Der Chor spielt in Verdis «Nabucco» eine zentrale Rolle. Foto: Monika Rittershaus.
Auch die übrigen Protagonisten sorgen für klare Kontraste. Anna Smirnova schreckt als machtgierige Abigaille nicht vor schrillen Tönen zurück, wird in dieser Monsterpartie aber nicht müde, sondern immer besser. Veronica Simeoni verleiht der sympathischeren Fenena vokale Wärme. Und die Männer schaffen es, nicht ganz im vokalen Schatten des Nabucco zu verschwinden: Georg Zeppenfeld gibt mit imposantem Bass den Priester Zaccaria, Benjamin Bernheims Ismaele ist ein leidenschaftlicher Liebender.
Nabucco bekommt seine Waffe zuletzt übrigens doch noch: kein Schwert zwar, aber eine Pistole. Es muss nun mal Blut fliessen in dieser Geschichte, das lässt sich allein mit einem Marmorblock nicht bewerkstelligen. Dass Michael Volle auch diesen Stilbruch mit Grandezza hinter sich bringt, ist nur der letzte Beleg für das, was vom ersten Ton an klar war: Hier hat ein grosser Nabucco sein Debüt gegeben.