Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (24.09.2019)
Die Spielzeit am Opernhaus beginnt mit einer aufrüttelnden Premiere von Janáčeks «Die Sache Makropulos». Evelyn Herlitzius brilliert darin als weiblicher Methusalem, der nach 337 Jahren endlich sterben will – ein visionärer Stoff.
Ewig zu leben, die Vergnüglichkeiten des Daseins immer und immer wieder aufs Neue bis zur Neige auszukosten, das war und ist ein uralter Menschheitstraum. Nur wird die Rechnung dabei wie üblich ohne den Wirt gemacht – wohin denn bloss mit all den jugendlich-hippen Unsterblichen auf unserer kleinen, fiebrigen Erde? Und auch sonst entpuppt sich die schöne Vision schnell als Albtraum: Verliert doch der Mensch im Bewusstsein unbegrenzten Verweilens im irdischen Paradies rasch den moralischen Kompass, ja, mit fortschreitender Dauer, in der x-ten Wiederholungsschleife seines Hierseins, womöglich sogar jedes Gespür für den Sinn des Lebens.
Der Tscheche Karel Čapek, dem die Welt die Erfindung des Wortes «Roboter» verdankt, hat aus diesem faszinierenden Sujet schon 1922 eine dystopische Komödie gemacht. Leoš Janáček formte sie kurz darauf in typisch eigenwilliger Manier zum Libretto seiner vorletzten Oper um – ein prophetisches Stück, das in den letzten Jahrzehnten verdientermassen Eingang ins erweiterte Repertoire gefunden hat. Jetzt eröffnet die Oper Zürich mit «Die Sache Makropulos» ihre neue Spielzeit und riskiert einen kritischen Blick auf das «Unsterblichkeitsproblem» im Licht unserer Zeit.
Brechungen
Zunächst allerdings sieht alles ganz historisch aus. Der Regisseur Dmitri Tcherniakov, in Zürich zuletzt mit Janáčeks «Jenůfa» und Debussys «Pelléas et Mélisande» erfolgreich, siedelt die Handlung in einem salonartigen, leicht angegrauten Hotelzimmer aus dem 19. Jahrhundert an. Diesen atmosphärischen Raum der Vergangenheit hat sich die todkranke Sängerin Emilia Marty zum Schauplatz ihrer letzten Stunden auserkoren. Doch irgendetwas stimmt da nicht.
Immer wieder schleichen sich kleine Brechungen ein: Da kurvt der alte, vermeintlich verrückte Operettentenor Hauk-Schendorf (köstlich überzeichnet von Guy de Mey) in einem elektrischen Rollstuhl herein und konfrontiert die Marty mit ihrem angeblichen Vorleben als Zigeunerin namens Eugenia Montez. Schon merkwürdig. Später holt Emilia dann einen auffällig modernen Rollkoffer aus einem Nebenraum, und schon gleich zu Beginn waren wir während des von archaischen Bläserfanfaren überstrahlten Orchestervorspiels per Videoeinblendung informiert worden, dass die Sängerin offenbar an Krebs im finalen Stadium leidet und nunmehr ihren letzten grossen Auftritt (beziehungsweise Abgang) plant.
Eigentlich schildern die Eröffnungsfanfaren etwas anderes. Sie beschwören das Zeitalter der Alchimisten, Naturforscher und Quacksalber während der Herrschaft des Habsburgerkaisers Rudolf II. in Prag. Dieser befahl seinem Leibarzt Hieronymos Makropulos Ende des 16. Jahrhunderts, ein Elixier zu entwickeln, das ewiges Leben schenken soll. Aus begründetem Misstrauen gegenüber der damaligen Medizin zwingt der Kaiser den Arzt allerdings, sein Gebräu zuerst an Töchterchen Elina auszuprobieren. Diese fällt ins Koma, der Vater wird als Betrüger hingerichtet. Hätte Elina die «Behandlung» überlebt, wäre sie unterdessen über 300 Jahre alt.
Genau dies behauptet Emilia Marty, die nicht zufällig dieselben Initialen «E. M.» im Namen führt und auch sonst Vorkommnisse aus der Vergangenheit kennt, von denen sie eigentlich nichts wissen kann. Bei Janáček gibt es keinen Zweifel: Emilia ist Elina, ein weiblicher Methusalem von inzwischen 337 Jahren, und ebenso verhält sie sich. Innerlich längst vollkommen leer und ausgebrannt, langweilt sie sich zu Tode, kann von nichts und niemandem mehr überrascht werden; alles ist ihr gleichgültig geworden – Gefühle, Nähe, Sex, selbst die Liebe sind für sie nichts als Geschwätz.
Evelyn Herlitzius, die jüngst in Zürich und andernorts als Straussens Elektra für Aufsehen sorgte, zeichnet ein überaus packendes Rollenporträt dieser vom Leben so unendlich Gelangweilten und spiegelt dabei alle Gefühlslagen souverän in ihrer Stimme. Sie ist herb, streng, launisch, verführerisch aus Berechnung, dann wieder schnippisch, zutiefst melancholisch und fürchterlich zynisch. Und wenn wieder einer der Männer, die Emilia umschwärmen wie Motten das Licht, um ihretwillen in den Tod geht, wie der verklemmte Janek (Spencer Lang), ihr grösster Fan, quittiert sie dies mit Achselzucken: Einer weniger, der ihr auf die Nerven geht. Soll man Mitleid haben mit dieser Frau?
Spannungen
Man soll, für Janáček stand dies ausser Frage. Er zeichnete mit der Figur der Emilia Marty das letzte von vielen grossen Porträts seiner Muse, der 37 Jahre jüngeren Kamila Stösslová, die ihn nie erhört, aber sein gesamtes Spätwerk inspiriert hat. «Ich möchte, dass am Ende alle sie gern haben», schrieb er im Hinblick auf Emilia, denn: «Ohne Liebe geht es bei mir nicht.» Deshalb verlangte er im Orchester sogar eine obligate Viola d’amore (in Zürich mit angemessen warmem Ton gespielt von Karen Forster), die etwa Emilias Seufzer «Wie egal mir alles ist» mit der schönsten, schwärmerischsten Musik der ganzen Oper konterkariert.
Tcherniakov bleibt kühler, er interessiert sich weniger für diese ungewöhnliche Text-Ton-Spannung als vielmehr für die Frage, ob ein Mensch nicht auch in existenziellen Extremsituationen wie dem Endstadium einer Krankheit in einen ähnlichen moralischen Ausnahmezustand verfallen kann wie der Methusalem Emilia. So entpuppt sich das Geschehen bei ihm – wieder einmal – als grosse Inszenierung in einem Fernsehstudio: als Reality-TV der übelsten Sorte, dem der überraschende «echte» Tod der Hauptdarstellerin erst den rechten Kick beschert. Das ist ein gelungener, bitterböser Coup de Théâtre, lässt aber die entscheidende Frage an uns alle offen, nämlich: Wie wir in Würde sterben können – und dürfen.
Janáček und seine Emilia-Figur sind hier wiederum klarer: Sie vernichtet die schliesslich wiedergefundene Rezeptur für das Elixier und entscheidet sich bewusst gegen eine (neuerliche) Lebensverlängerung. Jakub Hrůša am Pult der wie entfesselt, aber immer auch unerhört klangsinnlich spielenden Philharmonia lässt die drei pausenlos durchlaufenden Akte mit nie nachlassendem Rhythmusgespür dieser finalen Erlösung zustreben. Hrůša und das durchweg hochkarätige Ensemble, das Herlitzius mit plastischen, teilweise karikierend gezeichneten Typen umgibt, tragen so am Ende den Sieg davon, sogar über das Inszenierungskonzept – eine Musik-Regie-Spannung ganz eigener Art. Ein aufrüttelnder, zu Recht einhellig gefeierter Abend.