Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (24.09.2019)
Das Opernhaus eröffnet die Saison mit Janáceks «Die Sache Makropulos» – und einer grossartigen Evelyn Herlitzius.
Schluss jetzt mit der Diplomatie. Höflichkeit ist etwas für Menschen, die noch lange mit ihrem Umfeld auskommen müssen. Emilia Marty hat höchstens noch zwei Monate zu leben, wir haben die Röntgenbilder gesehen und den ärztlichen Bericht gelesen während der Ouvertüre zu Leos Janáceks Oper «Die Sache Makropulos». Nun sitzt sie da in einem Hotelzimmer, mit einer Perücke, für die man sichtlich nicht mehr allzu viel ausgeben wollte, und will Ordnung schaffen in ihrem Leben. Wenn andere dabei durcheinandergeraten: tant pis.
So viel wissen wir nach den ersten Minuten des Abends, und noch ein bisschen mehr: nämlich, dass sich der russische Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov schwertat mit diesem schwierigen Stück. Denn anders als Janáceks «Jenufa», mit der er vor sieben Jahren Andreas Homokis Intendanz einläutete, verweigert sich «Die Sache Makropulos» jedem realistischen Zugriff, jedem psychologischen Erklärungsversuch. Es braucht schon einen Sinn für höheren Blödsinn, um dieser Story beizukommen – oder einen Trick.
Die Story also: Sie erzählt von der Sängerin Elina Makropulos, die dank eines Elixiers 337 Jahre alt und trotzdem immer noch jung ist. Ein kompliziertes Leben hat sie hinter sich, immer wieder musste sie verschwinden, um ihr Geheimnis zu wahren. Unter verschiedenen Identitäten verbrachte sie die Jahrhunderte, nur die Initialen E. M. blieben; nun steht sie als Emilia Marty ihrem gleichaltrigen Ururenkel gegenüber und versucht, mit ihrem Wissen über die Vergangenheit einen Erbschaftsstreit zwischen den Nachkommen ihres geliebten und längst verstorbenen Pepi Prus zu regeln. Vor allem aber will sie wieder ans Rezept ihres Elixiers kommen, das ihr Pepi einst abgeluchst hat. Denn die Wirkung hält nur 300 Jahre an, eine neue Dosis ist überfällig.
Tcherniakov setzt nun auf diesen letzten Punkt, um die Geschichte doch irgendwie ins Reale zu drehen: Emilia Marty wird sterben ohne Wundermittel. Und sie hofft auf dieses Mittel, wie jede Todkranke – ganz egal, ob sie nun 337 oder nur 37 Jahre alt ist. Den Rest der Geschichte erklärt der Regisseur zu einer Show, die ihr Umfeld für Emilia Marty inszeniert; geduldig warten all die Figuren vor den Türen ihres Hotelzimmers, bis sie an der Reihe sind. Das ist nun kein besonders raffinierter Kniff, er funktioniert auch nur halb, aber das spielt keine Rolle. Was zählt, sind die Gefühle: Und die sind in Tcherniakovs Sicht exakt die gleichen wie in Janáceks Original.
Man hört diese Gefühle in jedem Takt dieser wilden, ungeglätteten, in jeder Hinsicht masslosen Partitur. Unter der Leitung von Jakub Hrusa tobt die Philharmonia Zürich durch eine Musik, die dem Leben abpressen will, was es nicht mehr hergibt. Überspannt klingt das, oft hysterisch, selten lyrisch. Motive werden abgesplittert oder aufgeplustert, durch die Register gejagt und zu Tode geritten, ins Variétéhafte gewendet oder ins Volksmusikalische; nie weiss man, in welche Richtung die nächste Kurve führt, aber das Orchester schafft dennoch jede, in vollem Tempo, oft auch in voller Lautstärke.
Und Evelyn Herlitzius hält mit. Die Emilia Marty gehört zu ihren Paradepartien, ansonsten ist die deutsche Sopranistin vor allem für Wagner-Rollen gefragt: weil sie mit ihrer Stimme gegen jedes Orchester ankommt – und dabei alles ausdrücken kann, was sie will. Hier nun gibt sie eine bittere Frau; kalt und grob ist sie geworden, gleichgültig gegenüber allem, was keine Rolle mehr spielt für sie. So wie sie ihre Schuhe durch das Zimmer kickt, so schleudert sie den Verehrern ihre Töne entgegen, immer in der Hoffnung auf eine Reaktion, auf ein bisschen Reibungswärme.
Die anderen reagieren irritiert, entsetzt, mitleidig. Und stilsicher: Deniz Uzun ist eine tatsächlich sehr begabte junge Sängerin Krista. Sam Furness dreht souverän durch als Ururenkel Albert, während Scott Hendricks als Prus-Nachkomme die baritonale Contenance verliert, weil die Marty noch härter ist als er. Und Guy de Mey gibt sehr vergnügt den irren Greis, der einst ihr Geliebter war.
Aber sie alle sind letztlich nur Statisten in ihrem Drama, schon im Original – und bei Tcherniakov erst recht. Wenn Evelyn Herlitzius sich ihrem Ende entgegensingt, hören sie nur noch zu, genauso gebannt und berührt wie das Publikum. Das ist Oper: Wenn selbst eine ganz und gar unwahrscheinliche Geschichte eine Figur nicht davon abhalten kann, wahr zu werden.